
Steigende Zahlen, aber keine Panik: Wie berechtigt ist die Corona-Angst?
Berlin/Pforzheim. Gefühlt war die Pandemie schon überstanden. Doch nun steigen die Zahlen deutlich, Panik ist aber nicht angebracht. Eine Analyse der Pforzheimer Zeitung:
Warum gibt es so viele Neuinfektionen?
Das Robert Koch-Institut (RKI) nennt mehrere Gründe: Vor allem Reiserückkehrer, die sich im Ausland angesteckt haben, bringen das Virus mit. Sie machen derzeit mehr als 40 Prozent aller Positiv-Getesten aus. Aber auch Familienfeiern wie Hochzeiten oder Geburtstagspartys sowie religiöse Veranstaltungen lassen die Zahlen laut RKI steigen. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) beobachtet eine zunehmende Sorglosigkeit vieler Menschen, die insbesondere bei privaten Veranstaltungen Hygienemaßnahmen vernachlässigten.
Wer steckt sich an?
Es sind derzeit insbesondere junge Menschen bis zu 29 Jahren, die sich infizieren. Im April lag der Anteil der über 55-Jährigen noch bei deutlich über 50 Prozent, zuletzt waren es in dieser Altersgruppe nur noch 17 Prozent. Das RKI führt dies auf die Rückkehrer aus dem Urlaub zurück, die größtenteils jung sind – und aktuell noch einer Testpflicht unterliegen. In den Monaten zuvor waren kaum jüngere Menschen getestet worden. Das erklärt auch, warum der Anteil tödlich verlaufender Erkrankungen sinkt.
Lassen sich die gestiegenen Zahlen nicht auch mit erhöhten Testkapazitäten erklären?
Doch, das ist ein Teil der Entwicklung. Die Zahl der Tests wurde massiv ausgeweitet. Zu Beginn der Pandemie im März und im April wurden vor allem Menschen mit Symptomen getestet oder jene, die in Risikoberufen arbeiteten, etwa in der Pflege. Damals lag die Quote der positiven Tests stets zwischen fünf und neun Prozent. Im Juni sank sie auf 0,6 Prozent, mittlerweile steigt sie wieder, lag zuletzt aber immer noch knapp unter einem Prozent.
Also doch alles nicht so schlimm?
Zumindest nicht so schlimm, wie es die nackten Infiziertenzahlen vermuten lassen. Klar ist aber auch, dass die Ansteckungsgefahr steigt. Je mehr Fälle es gibt, desto schwerer haben es die Gesundheitsämter, Kontaktpersonen ausfindig zu machen. CSU-Chef Söder fürchtet deshalb einen exponentiellen Anstieg, so wie zu Beginn der Krise, als es bis zu 6000 Neuinfizierte pro Tag gab. Ende vergangener Woche waren es über 2000, so viele wie seit April nicht mehr. Im Juni war die Zahl hingegen auf unter 500 gesunken. Kritisch wird es vor allem, wenn die Jüngeren die Alten anstecken. Dann wird es auch wieder mehr schwere Verläufe geben – und mehr Todesfälle.
Wie ist die Lage in der Region?
Die Zeiten, in denen es in Pforzheim, dem Enzkreis und dem Kreis Calw keine Neuinfektion gibt, sind vorbei. Am Dienstag etwa meldete das Gesundheitsamt für Pforzheim und den Enzkreis insgesamt zehn neue Erkrankte. Der Warnwert von 35 neuen Infektionen binnen sieben Tagen je 100 000 Einwohner, den Heilbronn am Montag überschritten hatte, ist indes noch fern: In Pforzheim liegt der Wert bei 12,7, im Enzkreis bei 10,0. Beschränkungen drohen erst bei einem Wert von 50.
Droht ein neuer Lockdown?
Das weiß niemand. Aber viel spricht gegen bundesweite Schließungen von Geschäften, Schulen und Kitas. Wissenschaft und Politik wissen mittlerweile mehr über das Virus und können entsprechend reagieren. Zudem hätte ein zweiter Lockdown das Potenzial, die Wirtschaft nachhaltig zu ruinieren. Das will niemand riskieren. Regionale und vorübergehende Lockdowns sind allerdings schon jetzt vorgesehen – wenn sich in einem Kreis oder einer Stadt binnen sieben Tagen mindestens 50 Menschen je 100.000 Einwohner infizieren.
Wird es weitere Einschränkungen geben?
Auch das lässt sich nicht vorhersagen. Denkbar ist aber, dass private Feiern wieder auf einen kleineren Kreis beschränkt werden. Auch Großveranstaltungen – also volle Fußballstadien oder Konzertsäle – dürfte es in den kommenden Monaten nicht geben. Allerdings gibt es keine bundesweit einheitlichen Regeln.
Ein Beispiel: Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) schlug am Dienstag vor, wieder Veranstaltungen mit bis zu 2500 Besuchern zuzulassen. Zum Vergleich: In Baden-Württemberg sind private und öffentliche Veranstaltungen mit bis zu 500 Teilnehmern erlaubt. Dem Vernehmen nach wird im Südwesten eher darüber nachgedacht, die Teilnehmerzahl zu begrenzen anstatt sie zu erhöhen. Ohnehin bleibt die Lage fragil, bis ein Impfstoff gefunden wird – ob und wann das passiert, ist entgegen Beteuerungen aus Russland oder den USA noch immer offen.