Sitzung der Grünen-Fraktion im Landtag von Baden-Württemberg
Durch eine ungewöhnliche Fügung fällt Ministerpräsident Kretschmann nun ein Zweitjob in den Schoß.
Marijan Murat/dpa
Baden-Württemberg
Das Doppelrollen-Dilemma - Kretschmann als Alterspräsident?
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Stuttgart. Es ist eine ungewöhnliche personelle Konstruktion, mit der der neue Landtag in die Legislaturperiode startet: Am 11. Mai kommen die Abgeordneten zur konstituierenden Sitzung zusammen.

Zu der lädt traditionell der Alterspräsident ein, der die erste Sitzung auch leiten darf. Das ist weder ein besonders bedeutender noch ein besonders langwieriger Job, aber symbolträchtig ist er. Der Alterspräsident stellt die Beschlussfähigkeit des Parlaments fest, sorgt für Ordnung im Saal und leitet traditionell den Wahlgang zur Bestimmung des neuen Landtagspräsidiums.

Diese ehrenvolle Aufgabe wurde traditionell immer dem ältesten Abgeordneten zuteil. Grüne, CDU, SPD und FDP haben aber gegen den Widerstand der AfD 2019 die Geschäftsordnung geändert - nun zählt nicht mehr das Lebensalter, sondern die längste Zugehörigkeit zum Landtag als wichtigstes Auswahlkriterium. Der dienstälteste Abgeordnete aber ist kein geringerer als: Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne). Der saß nämlich schon 1980 zum ersten Mal im Landtag. Normalerweise sitzt er auf der Regierungsbank oder steht am Rednerpult. Es wären ungekannte Szenen, wenn der amtierende Regierungschef plötzlich die Plenarsitzung leitet, die Abgeordneten zur Ruhe ruft, möglicherweise gar Ordnungsrufe verteilt.

Skurrile Ämterhäufung?

Laut Landtagsverwaltung kann Kretschmann selbst entscheiden, ob er den Zweitjob neben seinem Ministerpräsidentenamt ausfüllen will - oder die Aufgabe einfach weiterreicht. «Die Tatsache, dass Herr Kretschmann zum Zeitpunkt der Einladung noch Ministerpräsident wäre, da die Amtszeit des Ministerpräsidenten laut Artikel 55,2 der Landesverfassung erst mit dem Zusammentritt eines neuen Landtags endet, steht einer Ausübung der Rolle des Alterspräsidenten nicht entgegen», teilt der Landtag mit. «Es stünde ihm aber frei, diese Aufgabe nicht zu übernehmen.»

Nach Kretschmann kämen der CDU-Abgeordnete Willi Stächele (69) und CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart (64) an die Reihe - zumindest was das Dienstalter angeht. Beide sitzen nämlich seit 1992 im Landtag. Da als Zweitkriterium das Lebensalter zählt, wäre Stächele am Zug.

Im Staatsministerium hat man sich dazu noch keinen Kopf gemacht. «Der Gedanke ist noch nicht aufgeschlagen», heißt es dort nur.

Dabei könnte es noch etwas komplizierter werden für Kretschmann. Denn auch das Verfassungsgericht beschäftigt sich derzeit mit der Rolle des Alterspräsidenten im Parlament. Der Noch-AfD-Abgeordnete Klaus-Günther Voigtmann hatte gegen den Landtag Klage eingereicht. Denn nach der alten Geschäftsordnung wäre er mit seinen 75 Jahren zum Zuge gekommen als Alterspräsident in der noch laufenden Legislaturperiode. Die AfD sieht in der Änderung der Geschäftsordnung einen Verfassungsbruch.

Politisches Dilemma

Voigtmann selbst hätte nicht mehr viel davon, wenn ihm das Gericht Recht geben sollte. Er sitzt nicht mehr im nächsten Landtag und ist somit auch bei der konstituierenden Sitzung nicht dabei. Aber sollte der Verfassungsgericht den Landtag zwingen, die Geschäftsordnung wieder zurück zu ändern, stünde Kretschmann vor einem politischen Dilemma: Denn wenn es wieder nur ums Lebensalter geht, nicht mehr um die Zugehörigkeit zum Landtag, dann wäre unmittelbar nach Kretschmann der AfD-Abgeordnete Bernd Grimmer (fast 71) an der Reihe, danach käme AfD-Fraktionsvize Emil Sänze (70,5).

Dann müsste Kretschmann entscheiden, ob er die Doppelrolle annimmt oder einem AfD-Mann dem wichtigsten Platz im Plenum freimacht - beides eher ungemütliche Alternativen.