
- dpa/lsw
Stuttgart. Die Zahl von Hassdelikten sowie von judenfeindlichen Straftaten in Baden-Württemberg ist zuletzt sprunghaft angestiegen. Das Innenministerium verzeichnete im vergangenen Jahr einen Anstieg antisemitisch motivierter Straftaten von 228 (2020) auf 337 Fälle, wie die Deutsche Presse-Agentur in Stuttgart erfuhr - ein Zuwachs von fast 50 Prozent. Die Delikte seien überwiegend rechtsmotiviert, hieß es. Es geht in erster Linie um Volksverhetzung und Gewaltdarstellung. Auch die sogenannte Hasskriminalität nahm im Südwesten zuletzt erheblich zu.
Im Ministerium führt man den starken Anstieg vor allem auf die Landtagswahl, die Bundestagswahl und die zuletzt sehr aufgeheizte gesellschaftliche Atmosphäre in der Corona-Pandemie zurück. Im Kontext der Pandemie allein wurden 100 antisemitische Straftaten erfasst, davon 42 rechtsmotiviert.
Bei der Hasskriminalität verzeichnete das Ministerium im vergangenen Jahr einen deutlichen Anstieg von 746 (2020) auf 883 Fälle - also mehr als 18 Prozent Zuwachs. Bei 29 der 883 Fälle handelte es sich um Gewaltdelikte. 421 Fälle wurden demnach im Internet verübt. Bei den Delikten handelte es sich vor allem um Volksverhetzung und Gewaltdarstellung, gefolgt von Beleidigungs- und Propagandadelikten.


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Bei Hasskriminalität handelt es sich nach einer bundeseinheitlichen Definition um politisch motivierte Straftaten, die auf Vorurteilen beruhen. Diese beziehen sich etwa auf die Hautfarbe, das äußere Erscheinen oder die sexuelle Orientierung. Ziel solcher Straftaten sei es, die Opfer zu erniedrigen und von der gesellschaftlichen Teilhabe auszuschließen. 2019 wurden im Südwesten 777 solcher Straftaten gezählt, 2018 651 und 2017 565.
Antisemitische Straftaten sind nach Angaben des Innenministeriums eine Teilmenge der Hasskriminalität. 2019 wurden 182 antisemitisch motivierte Straftaten verzeichnet, 2018 136 und 2017 99.
Innenminister Thomas Strobl kündigte ein noch entschlosseneres Vorgehen gegen Hass und Hetze an. «Wir dürfen nicht müde werden und müssen jeden Tag aktiv für das gesellschaftliche Miteinander und das friedliche Zusammenleben in unserem Land eintreten», sagte der CDU-Politiker vergangene Woche der Deutschen Presse-Agentur. Er sieht in den statistisch erfassten Delikten «nur die Spitze des Eisbergs». «Wir wollen, dass dieser Berg aus Hass und Hetze schmilzt - und zwar auch unterhalb der Oberfläche. Wir wollen also auch die Auswüchse, die sich im Verborgenen breitmachen, bekämpfen und anpacken.»
SCHUTZ JÜDISCHER EINRICHTUNGEN
Das Land verstärkt etwa den Schutz jüdischer Einrichtungen. Nach dem antisemitisch motivierten Terroranschlag von Halle 2019 stellte die Landesregierung für die Israelitischen Religionsgemeinschaften in Baden und in Württemberg bis 2021 rund drei Millionen Euro für Sicherheitsmaßnahmen zur Verfügung. Für die kommenden drei Jahre sollen ihnen für Schutzpersonal sowie Alarm- und Meldesysteme zudem rund eine Million Euro jährlich bereitgestellt werden. Für große Betroffenheit hatte ein Brandanschlag auf die Synagoge in Ulm im Juni 2021 gesorgt. Die Fassade blieb rußgeschwärzt zurück, verletzt wurde niemand. Der mutmaßliche Täter floh in die Türkei, wo ihm aufgrund seiner türkischen Staatsangehörigkeit keine Auslieferung droht.


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Mitglieder von Glaubensgemeinschaften erhalten zudem bei verdächtigen Wahrnehmungen konkrete Verhaltenstipps von Experten. Die bundesweit ersten Polizeirabbiner sollen die interkulturelle Kompetenz innerhalb der Polizei im Südwesten stärken.
MAßNAHMEN GEGEN HASSKRIMINALITÄT
Im November rief das Land einen Kabinettsausschuss gegen Hass und Hetze ins Leben. Neben Vertretern aus Staats-, Innen-, Kultus-, Sozial- und Justizministerium sollen Experten aus Religionsgemeinschaften und der Zivilgesellschaft den Ausschuss je nach Thema unterstützen. Eine Task Force, angebunden ans Landeskriminalamt, soll einschlägige Bedrohungen im Bereich Hass und Hetze feststellen. Ein Hauptaugenmerk liegt auf der Stärkung der Medienkompetenz der Bürger - deshalb mischt nicht nur die Polizei mit, sondern auch die Landeszentrale für politische Bildung.
Mit einer neuen Social-Media-Kampagne, die im ersten Halbjahr 2022 starten soll, sollen die Menschen im Land sensibilisiert werden. Bei Staatsanwaltschaften, der Polizei und dem Landesverfassungsschutz wurden zudem Stellen aufgestockt. Das Land hat auch ein Netz an Meldestellen aufgebaut, um Hasskommentare und antisemitische Bedrohungen und Beleidigungen anzuzeigen. Die Meldestelle «respect!» meldet dem LKA jedes Jahr mehr Hinweise - 2019 waren es 234, 2020 258 und 2021 281. Die Mehrheit der Sachverhalte werde als strafrechtlich relevant beurteilt und nach Abschluss der Ermittlungen den zuständigen Staatsanwaltschaften vorgelegt. Seit 2019 gibt es auch eine Ansprechstelle für Amts- und Mandatsträger beim Landeskriminalamt.


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Der Antisemitismusbeauftragte der Landesregierung, Michael Blume, wünscht sich mehr Unterstützung aus dem Landtag im medialen Kampf gegen Antisemitismus. «Verschwörungsmythen sind durch digitale Medien wieder zu einem Mittel des Meinungskampfes geworden und werden von deutschen, russischen, türkischen, arabischen und englischsprachigen Extremisten auch in Europa gezielt verbreitet», sagte er der dpa. «Diese wenden sich gegen jüdisches Leben in Europa, aktuell massiv gegen den Präsidenten der Ukraine, gegen das friedliche Zusammenleben und gegen die Seele unserer Demokratien. Ich bitte dringend um mehr Unterstützung auch aus dem Landtag in diesem medialen Kampf.»
Innenminister Strobl betonte, es gehe nicht nur um eine statistische, sondern um eine «gesellschaftliche Kurskorrektur». Jede und jeder trage hier Verantwortung. «Aus hasserfüllten Gedanken werden Worte und aus Worten werden Taten», sagte er. Es fange beim Wegschauen, beim Weghören, beim Verharmlosen an. «Das sind die bösen Vorboten und der vergiftete Nährboden eines vergifteten gesellschaftlichen Klimas.»
Strobl liegt derzeit aufgrund einer Corona-Infektion im Krankenhaus, wie am Montag bekannt wurde.

