

Karlsruhe. Ruth kann kaum etwas sehen – joggen geht sie trotzdem. Mit Heike und einem Führring ist das möglich. Warum Lauf-Guides so wichtig sind.
Bis auf ein paar Infos wie „Rechtskurve“ oder „Jetzt geht’s bergauf“ braucht es nicht viel. Den Rest erledigt der Führring, den Ruth und Heike locker zwischen sich hin- und herschwingen. Mit ihm führt Laufguide Heike ihre Laufpartnerin Ruth in die richtige Richtung, während die beiden im Passschritt joggen – ein eingespieltes Team. Heike spielt auch Ruths Augen, denn die 52 Jahre alte Karlsruherin sieht nur noch Konturen. Der Gendefekt RPE raubt ihr nach und nach die Sehkraft. „Vor allem nach den Kindern ging es flott“, erzählt die ehemalige Erzieherin. Eine Zeit lang läuft Ruth auf ihrer üblichen Strecke noch frei, bis sie „volle Granate“ in ein dunkles Auto rast, erzählt sie und zeigt lachend die Narbe auf ihrer Stirn. Ab dann nur noch mit Guide.
Angefangen habe die Leidenschaft mit dem Halbmarathon in Karlsruhe 2008. Die bis dato frische, aber bereits seheingeschränkte Läuferin traut sich die unbekannte Strecke zuerst nicht zu. Doch sie macht es. Mit ihrem Laufpartner Björn und einem zu einer Acht geknoteten Stromkabel, das beide in der Hand halten und das, als Führring dient. „Der Halbmarathon sei schrecklich gewesen. Aber, wie das bei Laufanfängern so ist: „auch ganz ganz toll. Ab da war ich angefixt“, so Ruth. Bis heute ist das Laufen für die humorvolle Karlsruherin „einfach toll. Fürs Hirn-Zurecht-Rütteln.“ Der Sport sei ihre Akkufüllung, gebe ihr Energie.
Einfach machen
Dass die Sportlerin eine Macherin ist, ist ihr großer Vorteil. Beim Laufen muss sie ihrer Begleitung komplett vertrauen. Zuerst waren das Bekannte, dann Mitglieder ihrer Laufgruppe, die es nach der Corona-Pandemie leider zerschlagen hat, danach Guide Sebastian, vermittelt durch die Selbsthilfegruppe „Pro Retina“ – und einmal hatte sie sogar ein spontanes Blind-Date mit einer Läuferin, die für einen Halbmarathon eingesprungen ist, erzählt Ruth. „Wir haben uns an der Startlinie getroffen.“
Muss man da nicht erstmal Vertrauen aufbauen? Ruth macht sich da keinen Kopf: „Ich würde auch niemanden gegen einen Baum rennen lassen.“ Außerdem könne immer etwas passieren. Ängste halten die Laufbegeisterte also nicht zurück. „Das ist mein großer Vorteil. Ich mache es einfach.“
Die Läuferin vom Halbmarathon organisiert Ruth dann Heike. Heike ist sportbegeistert und läuft seit zehn Jahren. Sie fährt Rennrad, spielt Padel-Tennis und Badminton. Der Guide davor habe nicht gepasst. „Er oder Sie muss um einiges fitter und ausdauernder sein“, betont Ruth. Im Selbsttest darf ich es ausprobieren und merke schnell, was Ruth damit meint.Warnungen wie: „Achtung, da kommen Schlaglöcher“ helfen der blinden Person herzlich wenig. Heike, die seit zwei Jahren mit Ruth joggen geht, weiß es besser: „Am besten ist es, wenn du Ruth einfach zur Seite lenkst, weg von den Löchern.“
Führen mit dem Führring
Ich führe Ruth, die gerne rechts vom Guide läuft, am Führring nach links. Später ziehe ich den Ring, und somit auch Ruth, wieder leicht nach rechts, um die Fahrradfahrer an meiner Seite vorbei zu lassen. „Der Guide läuft immer an der Gefahrenseite“, erklärt die 57 Jahre alte Karlsruherin. Ruth von Stolperfallen wie Wurzeln und Steinen wegzulenken und somit vorausschauend für sie und für mich zu laufen, kostet Energie. „Und das zusätzlich zum Joggen. Deshalb muss der Guide fitter sein“, sagt Heike, die als Informationssicherheitsbeauftragte arbeitet. Bisher habe aber alles gut geklappt auf ihren Zehn-Kilometer- oder Intervallläufen.
Herausforderung: Überholen
Für zehn Kilometer brauchen die beiden etwas mehr als eine Stunde. Eine schnellere Zeit auf einem Wettkampf wäre auch „völlig möglich“, betont Heike. Wären da nicht diese ganzen anderen Menschen, die man erstmal wie in einem Parcours überholen muss. Eine echte Herausforderung, wenn man im Tandem läuft. Heike erklärt: „Bei jeder Überholaktion muss man sich fragen: Wo läuft er jetzt vor mir hin? Bleibt irgendwer vor mir stehen?“ Mit ihrem anderen Laufpartner Simon sei ihr das mal passiert. Mit einem kräftigen Ruck am Führring konnte sie ihn in letzter Sekunde vor einem Zusammenprall bewahren.
No-Go: Unsicherer Guide
Wer führt, darf keine Angst haben, Entscheidungen zu treffen. Zu langes Zögern kann gefährlich werden. Das macht auch für Ruth einen Guide aus. Unsicherheit am Band – „dann funktioniert es nicht.“ Auf der anderen Seite braucht es für ein funktionierendes Tandem auch 100-prozentiges Vertrauen des Seheingeschränkten. „Ich habe mit Ruth und Simon zweimal einen Sechser mit Zusatzzahl gehabt“, so die 57-Jährige. Für sie war es auch nicht schwer, sich an das Guiden zu gewöhnen. „Ich habe mir da im Vorfeld gar keine großen Gedanken drüber gemacht.“
Guidenetzwerk Deutschland
Um dennoch mehr Sicherheit zu bekommen, besucht Heike eine Schulung des Guidenetzwerks Deutschland. Die Website vernetzt seheingeschränkte und sehende Menschen. Zum Glück, denn ohne Guides könnten viele nicht das tun, was sie glücklich macht. „Ohne Guide kann ich draußen nicht laufen“, betont Ruth. Sie habe zwar ein Laufband, aber lange darauf joggen sei nicht das Wahre. Auch für Heike ist das Tandem eine Bereicherung: „Es erdet mich. Das, was Ruth mir gibt, kann ich ihr gar nicht zurückgeben.“
Zuspruch von Außen
Bei Außenstehenden kommt das Renn-Duo gut an. Vor allem wenn sie mit einem weiteren Tandem unterwegs sind, bekämen sie sehr viel Zuspruch. „Ihr macht das super oder Hut ab“ heißt es dann. „Wir zeigen damit, was alles möglich ist“, sagt Ruth. „Es ist dann wie eine Motivation für die Außenwelt.“ Auf dem Heel-Lauf in Baden-Baden haben die beiden eine Frau mal bis ins Ziel gebracht, erzählt Heike. Es war ihr erster Wettkampf. Begeistert von dem Tandem, habe sie sich ihnen angeschlossen. „Sie meinte, sie sei ihre persönliche Bestzeit gelaufen.“