
Matthias Hautsch erlitt im Jahr 2016 einen schweren Schlaganfall. Eine Geschichte über den Kampf des Musikers und Leistungssportlers zurück ins Leben.
Rösleinweg. Was für eine Adresse für einen so freundlichen, warmherzigen Musiker. Der sich selbst als demütig und gläubig beschreibt. Dabei waren die Zeiten für ihn alles andere als rosig.
Herzlich empfängt Matthias Hautsch seinen Besuch. Kurzer Gang durchs Haus. Das Studio hängt voller Gitarren. Eigentlich braucht er nur drei, vier. „Die meisten habe ich geschenkt bekommen“, sagt der 56-Jährige. Auf dem Boden und in Regalen stapeln sich unzählige CDs. Hautsch kauft sie auch heute noch. Gute Alben mag er zu Hause haben, sie unabhängig vom Internet hören.

Im ersten Stock hat Hautsch sein Zeitfahrrad zum Überwintern ins Wohnzimmer geholt. „Weil es so schön aussieht.“ Überhaupt, er lebt gerne in Schwann, „glücklich geschieden“ mit seinen zwei Jungs, die langsam flügge werden. Er schätzt die Ruhe. „Immer auf Tour, in einer Tour – das brauche ich nicht mehr.“ Zu besten Zeiten hat er 180 Gigs im Jahr gespielt. Früher. Bis es nicht mehr ging.
Hautsch brüht sich einen Kaffee auf. „Bis ich 30 war, habe ich keinen getrunken. Heute bin ich Junkie“, sagt er. Dann beginnt er zu erzählen, wie er einst zur Musik kam. „Als Kind habe ich die Platten meiner Eltern kaputtgehört“, erinnert er sich. Titel wie „Puppet On A String“ von Sandie Shaw, die er heute noch gerne interpretiert. Erst mit 18 fängt er an, Gitarre zu spielen. Und verfällt dem Rock der 70-er. „Als die erste Platte von Van Halen drei Jahre nach ihrer Veröffentlichung endlich bei uns in Neusatz auftauchte, habe ich lichterloh gebrannt. Geniale Musik und Gitarrenarbeit. Ich dachte, das will ich auch können.“

Auftritte mit Cezanne
Autodidaktisch bringt er sich das Instrument bei, traut einfach seinen Ohren und spielt die Melodien nach. Noten lernt er erst später. „Unterm Strich war das gut, ich habe von den besten der besten abgeschaut“, sagt Hautsch. Schnell gründet er sein erstes Duo, die Kassetten liegen noch bei ihm zu Hause. Doch Hautsch will weiterkommen, das gelingt mit Cezanne. In den 1980-ern macht sich die Band mit vielen Auftritten landauf, landab einen Namen. Bis in die 2010er-Jahre spielt Hautsch Rock, natürlich auch in einer Van-Halen-Coverband. Die Musik finanziert sein Studium der Nachrichtentechnik.
Mit 30 Jahren beschließt er nach reiflicher Überlegung – schließlich muss er eine Familie ernähren –, Musiker zu werden und geht nach Wien ans American Institute of Music. Als Sideman ist er bei diversen Projekten gefragt, von Chris de Burgh bis Julio Iglesias: im Studio, live beim Jazzfestival in Montreux, am Theater, in vielen Musicals. Sein Gitarren-Sound veredelt Hunderte Alben.
Der SWR-Jazzpreisträger lernt fast alle seiner Idole kennen. Ob Mike Stern, „ein Seelenverwandter“, oder Tommy Emmanuel: „Ein Wegbereiter in Sachen Akustik, der mich zum Lachen und Weinen bringt.“ Darin liegt auch seine Mission. „Wenn ich sehe, dass jemand im Publikum eine Träne verdrückt, oder einfach nur strahlt – wenn ich das transportieren kann, bin ich glücklich.“ Wegbegleiter schätzen an ihm, dass er Herz und Seele in seiner Musik offenlegt, einen ganz eigenen Stil pflegt – und stets verlässlich ist.
Offenheit für Neues ist tief in seiner Seele verankert. Heute kennt man Hautsch mit sanften Tönen, als Jazz- und Fusion-Gitarrist. „Ich bin da so reingerutscht“, erinnert er sich. Initialzündung ist ein Auftritt in Karlsruhe mit Sandie Wollasch und Tommy Baldu, samt damals geliehener Akustikgitarre. „Zu diesem Instrument habe ich schnell Liebe empfunden. Es ist nackt und ehrlich. Da musst du die Hosen runterlassen, kannst nichts kaschieren.“ Da Sandie ihn bittet, pro Auftritt ein Solostück zu spielen, schafft sich Hautsch jeden Monat eins drauf. Inzwischen ist ein Repertoire von Dutzenden Akustik-Songs entstanden, darunter viele Eigenkompositionen.

Bei allem sieht sich Hautsch als totalen Spätzünder. „Bis 45 habe ich engagiert Nicht-Sport betrieben“, scherzt er. Dann überredet ihn ein Nachbar zum Laufen. Hautsch legt los. Immer schneller, immer längere Strecken. Nach dem Lust- und Laune-Prinzip entdeckt er im Sport einen Gegenpol. Marathon, Triathlon, drei Jahre später sein erster Iron Man. Läuft bei ihm. Hautsch ernährt sich ausgewogen, ist fleißig, topfit, drahtig. „Sport, Musik, Vaterrolle: Ich dachte, ich führe ein privilegiertes Leben und fühlte mich mit Liebe überschüttet. Ich war nicht nur zufrieden, ich war glücklich.“ Und doch, ein Leben auf der Überholspur, Vollgas, den Blinker immer links – das sollte Konsequenzen haben. Im Nachhinein hätte er ein Ereignis Ende 2015 als Vorboten erkennen müssen. In einer Woche voller Stress kann Hautsch auf dem Weg zu einer Probe in Mannheim sein Auto nicht mehr auf der Straße halten. „Ich war total kaputt, hatte Tränen in den Augen.“ Aber Hautsch hält durch. Bis an jenem Tag im März 2016.
Der Schlaganfall kommt aus dem Nichts. In der Wohnung seiner damaligen Freundin bricht er zusammen. „Ein krasses Erlebnis, ich konnte meine linke Körperhälfte nicht mehr spüren. Ich konnte Nägel in die Haut stechen und habe nichts gemerkt. Tot.“ Seine linke Hand wird zum Fremdkörper, Hautsch kann sie nicht mehr steuern. Die Prognosen sind deprimierend. Doch Hautsch beginnt wieder zu trainieren. Erst in der Reha, dann zu Hause. Jeden Tag, stundenlang: sprechen, laufen, greifen. „Ich hatte zwar Kraft, war aber nicht in der Lage, sie zu koordinieren. Die Sprache kam recht schnell zurück, aber es hat Wochen gebraucht, bis ich mit links wieder eine Flasche zudrehen konnte.“ Ein befreundeter Physiotherapeut sagt ihm knallhart: „Für jemand wie dich ist das doch ein alter Scheiß!“ Das habe ihn motiviert. Zunächst.
Drei Wochen nach dem Schlaganfall lässt Hautsch sich eine Gitarre bringen. „Ich habe eine Stunde lang versucht, einen einfachen E-Akkord zu greifen. Das kann jedes Kind.“ Doch bei dem Mann, der zuvor als einer der virtuosesten Gitarristen im ganzen Südwesten galt, geht nichts mehr. „Extrem frustrierend. Das war der einzige Tag, an dem ich nicht mehr leben wollte.“ Hautsch gibt nicht auf. Er versucht, jeden Finger einzeln mit der anderen Hand auf die Saiten zu setzen. Immer wieder, bis es klappt. Er übt sechs Stunden am Tag. Doch die fürs Greifen der Akkorde so wichtige Hornhaut bildet sich nicht mehr.
Im Lauf der Monate eignet sich Hautsch eine Hilfstechnik an, mit der er langsam wieder durchs Leben kommt. Die Körperkontrolle muss er über seine visuelle Wahrnehmung steuern. „Wo ist mein Bein? Wo ist mein Arm? Wenn ich sie sehe, kann ich sie führen.“ Das überträgt er aufs Gitarrenspiel. Immer genau beobachten, was die Hand so treibt. „Mein kleiner Finger ist ein kleiner Despot, der macht, was er will.“ Daran arbeitet Hautsch bis heute, deswegen trägt er auf Konzerten stets eine Brille. Wenn die Sicherheit fehlt, geht er eben technische Umwege.
Die ersten Auftritte folgen schon Ende 2016. „In meinen Augen habe ich versagt.“ Oft sei er eine Sekunde davor gewesen, abzubrechen. Aber er wollte es einfach nur überstehen. Hautsch ist keiner, der aufgibt. Er übt, trainiert, beißt sich durch. Mediziner sagen, seine gute körperliche Konstitution, aber auch die Plastizität seines in der Kreuzkoordination geschulten Musiker-Gehirns haben ihm geholfen, dahin zu kommen, wo er heute steht. Er läuft wieder Langstrecke, steht bei Wettkämpfen auf der Siegertreppe. Trotz einiger Rückschläge: Radunfall 2017, Stürze 2018. Hautsch, das Stehaufmännchen.
Körperliche Schmerzen zu überwinden, damit kann er umgehen. Emotionale Wunden jedoch liegen tiefer. Anfang des Jahres geht seine letzte große Liebe zu Ende. Daran hat Hautsch länger zu knabbern. „Weil ich so emotional bin, wie ein offenes Buch, wenn mich Sachen berühren.“ Und das schafft eben nichts so gut wie Musik, Sport und gute Freunde. Sie bringen ihn zum Strahlen. Bis über beide Ohren. An seiner Genesung arbeitet der Künstler seit knapp vier Jahren. Trotz insgesamt geringeren Pensums – nahezu jeder Abend ist wieder verplant. Auch 2020 wird er auf der Bühne stehen: an der Seite von Dieter Huthmacher, beim Alexis- Sorbas-Projekt mit „Tatort“-Kommissar Miroslav Nemec, mit Wollasch und Baldu, aber auch solo.
„Ich muss 130 Prozent bringen, um 100 Prozent zu bekommen, damit der Zuhörer nichts merkt.“ Früher haben ihm Fehler wehgetan, heute schmunzelt er drüber. „Jedes kleine Erfolgserlebnis macht mich glücklich.“ Er fühlt sich nicht mehr behindert und alles in allem „gesegnet und beschenkt, in einem Land zu leben, in dem kein Krieg herrscht“. Essen zu haben, gesunde Kinder. „Auf der Couch vor dem Ofen sitzen, einen Kaffee trinken, oder einfach nur in den Himmel schauen. Ich freue mich, wenn die Sonne wieder aufgeht und ich dieses herrliche Leben führen darf.“ All das zählt. Den großen Stress braucht Matthias Hautsch in seinem zweiten Leben nicht mehr.
Mehr über den Musiker im Internet auf www.matthiashautsch.de
