7000 Musikfans staunen nicht schlecht: Statt Musik von Kraftwerk erleben sie beim Konzert plötzlich Astronaut Alexander Gerst. Live zugeschaltet von der ISS stimmt er mit den Elektro-Veteranen ein Duett an. Und am Samstag heizt dann Lenny Kravitz mit seinen Hits kräftig ein.
Irgendwann, in 50 Jahren vielleicht, werden Kraftwerk immer noch spielen. Dann stehen nicht mehr vier ältere Herren auf der Bühne, sondern nur noch Roboter. Es wäre die letzte Konsequenz in einer von Maschinen, Computern und Daten beherrschten Welt. Zukunftsmusik?
Zukunftsmusik haben Kraftwerk am Freitagabend bei den jazzopen gespielt. Es ist 21.50 Uhr, als es über den Schlossplatz schallt: „Guten Abend Kraftwerk, guten Abend Stuttgart!“ Zugeschaltet ist ESA-Astronaut Alexander Gerst. An einem Tablet-Computer spielt er jene Fünftonfolge, die in Spielbergs „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ den Versuch einer Kommunikation der Menschheit mit Außerirdischen symbolisiert. Doch wer hier Kontakt aufnimmt, ist nicht E. T., es ist der leibhaftige Astro-Alex, in weißem Captain-Future-T-Shirt.

Alexander Gerst bei Kraftwerk-Konzert
Bericht über die Mission
Mancher Zuschauer nimmt seine 3D-Brille ab, reibt sich erstaunt die Augen. Und fragt sich, ob das ein eingespieltes Grußvideo ist? Doch da schnappt sich Gerst ein Mikro und spricht zu den Stuttgartern aus 400 Kilometern Entfernung, aus der internationalen Raumstation ISS: „Eine Mensch-Maschine – die komplexeste und wertvollste Maschine, die die Menschheit je gebaut hat“, sagt der 42-Jährige und spielt damit auf das gleichnamige Kraftwerk-Album von 1978 an. Gerst berichtet von seiner Mission, der friedlichen Forschungszusammenarbeit von mehr als 100 Nationen, „um das tägliche Leben auf der Erde besser zu machen“.
Dann kündigt Kraftwerk-Gründungsmitglied Ralf Hütter wortkarg an: „Lass uns zusammen Zukunftsmusik machen!“ – und spielt mit Gerst eine sphärische Version des Titels „Spacelab“, gefilmt von Tausenden Smartphones. Der Astronaut, der tags drauf twittern wird, er hätte nicht gedacht, dass sein „erstes Konzert im Leben gleich zusammen mit den legendären Kraftwerk-Musikern sein würde, und schon gar nicht eine Jam Session live aus dem Weltraum“, drückt der Reihe nach ein paar Rechtecke auf seinem als virtueller Synthesizer konfigurierten Tablet.
Dass Hütter durch die Laufzeitverzögerung Gersts fiependen Tönen leicht hinterher spielt, verdeutlicht: Das ist live, real und versetzt selbst abgebrühteste Konzertgänger in Verzückung. Ihnen wird klar, dass sie mit 7000 anderen gerade Teil eines historischen Ereignisses sind. Und Kraftwerk auch nach fast fünf Jahrzehnten weiterhin eine der wegweisendsten Popbands ist.
Das Zusammenwirken von Mensch und Maschine, eine Botschaft aus dem All, Musik im interstellaren Dialog als universelle Sprache der Welt – damit setzen Kraftwerk die Visionen um, mit denen sie in den 1970er-Jahren angetreten sind und technokratische Schlagworte wie „Computer“, „Autobahn“, „Radio-Aktivität“ und „Neonlicht“ in elektronische Musik verarbeiteten. Die Düsseldorfer sind Vorbilder und Blaupausen für unzählige Bands verschiedenster Richtungen: Coldplay bediente sich der Melodiefolge von „Computerliebe“ im Stadionrocker „Talk“, Jay-Z sampelte Sequenzen von „Die Mensch-Maschine“ für seine Hip-Hop-Nummer „Sunshine“ – in Stuttgart spielen Kraftwerk die Originale. Auch Klassiker der deutschen Avantgarde erklingen: „Die Roboter“ und „Das Model“, oder die mit Improvisationen angereicherte „Tour de France“-Trilogie und „Trans Europa Express“. Dieses Programm in faszinierender 3D-Akustik und -Optik perfektionieren Kraftwerk seit Jahren auf rar gesäten Konzerten. Die grünen Zahlenfolgen, grellen Radioaktivitätssignale, animierten Autobahnen und Züge entfalten in Stuttgart aber erst mit zunehmender Dunkelheit ihre volle Wirkung. Auch der dreidimensionale Klang stößt Open-Air an seine Grenzen. Dennoch haben die treibenden, pluckernden Sounds eine wunderbare räumliche Tiefe, tolle Bässe und bewegte Flächen.
Ein Gesamtkunstwerk
Ralf Hütter, Henning Schmitz, Fritz Hilpert und Falk Grieffenhagen stehen in engen Ganzkörperanzügen an ihren grauen Pulten und kultivieren diese minimalistische Performance mit einer unfassbar stoischen Ruhe. Wie musikalische Roboter eben. Hütter spielt die Keyboards, Schmitz kümmert sich um Sequenzen und Bass, Hilpert um perkussive Sounds, und Grieffenhagen arrangiert die Videos synchron zur Musik. Heraus kommt ein Gesamtkunstwerk.
Zu „Die Roboter“ lassen sich die Musiker gegen Ende des Konzerts ersetzen, hier schließt sich der Kreis zu ihrem in den 1970er-Jahren mit Puppen durchkonzipierten Erscheinungsbild. Und der Weg in die Zukunft rückt näher. Mit mit einem knackigen „Boing Boom Tschak“.


