Coastal Terrain and Buildings, ?South of France or Italy
Berühmtes Werk: „Schneesturm“ von 1842. Tate Images
Tate / Tate Images
Blick in die Münchner Ausstellung mit den perspektivischen Werken von William Turner.
Kultur
Der Vater der Abstraktion

Turner-Ausstellung im Lenbachhaus macht die spannende Entwicklung des Künstlers wird mit großartigen Bildern nachvollziehbar.

„Wenn ein Maler allein an seinem Nachnamen erkannt wird, ist er in den Olymp der bildenden Kunst aufgestiegen“, sagt Kuratorin Katrin Althaus. Dennoch: Der britische, vermeintlich recht kauzige Maler Joseph Mallord William Turner RA (1775-1851) legte enormen Wert auf die korrekte Namensnennung. Auch, um einen Mythos zu erschaffen, wie die außergewöhnliche Münchner Ausstellung „Turner – Three Horizons“ bis 10. März im Lenbachhaus in faszinierender Weise zeigt.

Dank einer glücklichen Fügung: Die Tate Britain in London, aufgrund des Turner’schen Vermächtnisses im Besitz von rund 300 Gemälden und über 30 000 Arbeiten auf Papier, plant eine große Ausstellung zum „Blauen Reiter“. Dank des Erbes von Gabriele Münter besitzt das Lenbachhaus wiederum mit rund 1000 Werken die größte Sammlung dieser wichtigen deutschen Künstlergruppe. Die Tate bietet im Austausch eine „Carte blanche“ – die einmalige Chance, unter dem riesigen Turner-Fundus frei auswählen zu dürfen.

Gemeinsam mit Nicholas Maniu hat Katrin Althaus diese Chance genial genützt und eine kluge Ausstellung konzipiert, die überrascht und begeistert. Denn sie stellt dem offiziellen, weithin bekannten Turner, der sich mit seinen Ausstellungsbildern in der Londoner Kunstszene positionierte, den privaten Maler gegenüber, dessen künstlerische Experimente ihm halfen, Konventionen zu überwinden und fast abstrakt wirkende Bilder zu entwickeln. Die Schau zeigt den Künstler aber auch als cleveren Selbstvermarkter, als politischen Menschen in einer disruptiven Zeit und als Professor für Perspektive an der Royal Academy. Turner war es ein großes Anliegen, vielen Menschen Zugang zu seinem Werk zu ermöglichen – sei es durch Ausstellungen an der Royal Academy oder die bereits zu Lebzeiten von ihm kuratierte Sammlung von 100 eigenen Werken, die er als Geschenk der Öffentlichkeit vermachte. Und die aufzeigen, wie rasant sich die Welt in diesen (Kriegs-)Jahren weiterentwickelte: von Bildern mit Pferd und Kutsche bis zur Eisenbahn, vom Segel- bis zum Dampfschiff. Turners Interesse galt dabei ebenso wissenschaftlichen Erkenntnissen wie neuen Formen der Lehre. In seinen „Lecture Diagrams“ – „sozusagen der damaligen Powerpoint-Präsentation“, so Althaus – visualisiert er Ansätze der Perspektivtheorie. Allerdings mit schwankendem Erfolg: „Die Diagramme sind wirklich schön. Sie sprechen verständlich zum Auge, auch wenn die Sprache für das Ohr kaum verständlich ist“, beschrieb ein Student die Vorlesung des nuschelnden Turner mit Cockney-Akzent.

Entgegen manch anderer aktueller Ausstellungskonzeption haben die Münchner ihre Schau chronologisch gehängt. Und das so überzeugend, dass sie einen neuen Blick auf den „Maler des Lichts“ wirft. Denn auf der linken Seite der langen Ausstellungshalle hängt der Turner, wie er sich höchst erfolgreich selbst präsentierte – abgefangen mit noch akademisch von dunkel nach hell aufgebauten Leinwänden. Doch die auf der rechten Seite zeitlich parallelen Werke zeigen einen ganz anderen Maler. Den Suchenden, den Experimentierenden, der auf einem Boot auf der Themse fahrend die Landschaft aus der Untersicht malt, der mit 18 Jahren loszieht, um seine englische Heimat und dann Europa zu erkunden. Der in der Natur unterwegs ist und am Tag gerne mal 100 Bleistiftskizzen fertigt, um sie dann im Atelier für seine Gemälde zu nutzen. Für welche Themen? „Als Maler der Romantik steht bei ihm die Kunst des Sublimen als Gegenpol zu allem Schönen im Mittelpunkt“, sagt Maniu.

Schiffbrüche, Lawinen, Unwetter – Turner bringt sie mit enormer Kraft und ganz eigenem Blick auf die Leinwand. Manchmal mit dominierendem grauen Farbfeld, wie bei „The Fall of the Avalanche“ im Jahr 1810. Farbe und Form entfalten sich mit zunehmender Zeit in einer bis dahin ungesehenen Freiheit. Etwa im Titelbild der Ausstellung „Three Horizons – ein Verweis auf „Three Seascapes“ (Drei Seeansichten, 1827), in dem, je nach Blickwinkel, drei oder gar vier Ansichten des Meeres ineinander übergehen. Eindrucksvoll deutlich nähern sich die öffentlichen und die privaten Linien immer weiter an. Und kulminieren im letzten, berühmten Bild „Schneesturm“ von 1842. Hier verschieben sich zunehmend die Grenzen des Darstellbaren, lösen sich die Bilder so deutlich von der anschaulichen Natur, dass sie in ihrer Reduktion auf Farbe und Licht die abbildende Funktion in Frage stellen. Und für die Menschen der damaligen Zeit – allen voran die Kunstkritiker – völlig unverständlich werden. Turner öffnet die Tür zum Impressionismus und sogar zur Abstraktion. Oder wie es der abstrakte Maler Mark Rothko anlässlich der Ausstellung dieser Werke 1966 im MoMa New York 1966 so schön formuliert: „Dieser Turner! Er hat viel von mir gelernt.“

Mehr über Leben und Werk Turners an diesem Dienstag 31. Oktober, 19 Uhr, beim Vortrag von Claudia Baumbusch im PZ-Forum. Anmeldung unter Telefon (0 72 31) 933-125. Es sind nur noch Restkarten erhältlich.