
- Michael Müller
Eberdingen. Die Fotografie ist das Erinnerungsmedium schlechthin. Sie prägt unsere Biografien. Jede menschliche Identität baut sich stark über Bilder auf. Heute mehr denn je, dank „Fotowundern“ in Form von Smartphones in der Hosentasche und diversen Präsentationsplattformen im Internet. Mal erzählerisch, poetisch, aber auch abstrakt: Das Thema „Gegenwart | Erinnerung“ hat den acht Künstlerinnen und zwei Künstlern vielfältige Möglichkeiten des Anknüpfens und Auseinandersetzens geboten. Zu sehen sind ihre faszinierenden Positionen von heute an im Nussdorfer Kunstwerk der Sammlung Klein. Wenn deren Initiator Peter W. Klein sie durchschreitet, erlebt er ein „Wechselbad der Gefühle“, wie er sagt.
„Traurig, dass man fast Tränen in den Augen hat, aber auch erfrischend und voller Freude.“
Seit Oktober 2007 präsentieren Alison und Peter W. Klein in dem vom Pforzheimer Architekten Folker Rockel entworfenen Museum in wechselnden Ausstellungen Werke aus ihrer Sammlung. Nach anfänglicher Konzentration auf Malerei setzten die beiden mit der Einrichtung des Stiftungspreises Fotokunst im Jahr 2009 ein Zeichen für die gewachsene Bedeutung der Fotografie in ihrer Sammlung zeitgenössischer Kunst. Die Auswahl der Kandidaten sowie die Entscheidung über die Vergabe des mit 10.000 Euro dotierten Preises – eine Entscheidung soll in diesem Herbst fallen – erfolgt durch eine unabhängige vierköpfige Fachjury. Der Förderpreis richtet sich nun zum fünften Mal an bis zu 45 Jahre alte Künstlerinnen und Künstler, die in Deutschland leben und arbeiten.

Das Thema verweist in diesem Jahr auf die Funktion von Fotografie als Gedächtnisspeicher und Erinnerungsmedium. Es eröffnet ein weites Feld inhaltlicher Bezüge und bietet außergewöhnliche Eindrücke. Einen erzählerischen Zugang hat Nina Röder (Jahrgang 1983) gewählt. Bewegend, humorvoll, absurd – in ihren inszenierten Fotos erzählen Gegenstände vom Leben der Großeltern. Nach deren Tod galt es, ihr Haus zu räumen. Wovon trennt man sich? Was wird als Erinnerungsstück aufbewahrt? Der Serie gegenüber steht die abstrakte Annäherung von Marie Zbikowska (Jahrgang 1978). Mit Gefäßen und (Zeit-)Kapseln hinterfragt sie das Archivieren, Speichern und fragmentarische Abrufen von Gedächtnis- Inhalten.
Schaufensterpuppen als Stellvertreter
Gesichtslose Porträts. Avatare. Leere Körper. Schaufensterpuppen dienen als Stellvertreter für Menschen. Die Protagonisten in den Arbeiten von Louisa Clement (Jahrgang 1987) sind bar jeglicher Identität, sie zeichnen ein irritierendes, unbehagliches Bild unseres gegenwärtigen Lebens. Sabrina Jung (1978) sammelt alte Porträts, reproduziert sie in Lebensgröße, kombiniert sie collagenartig mit maskenhaften Ausschnitten zeitgenössischer Modefotografie und hinterfragt Identitäten. Ihre Totenbilder zeigen zudem Leichname, als ob sie schliefen. Andrea Grützner (Jahrgang 1984) überblendet in ihrer Serie „Erbgericht“ Raumausschnitte des gleichnamigen Gasthofs ihrer Heimatgemeinde mit Schatten. „Es sind unsere Projektionen, die sie einfärben“, sagt sie.

Die von Christiane Feser (Jahrgang 1977) fotografierten Papierelemente sind derart ausgeleuchtet, dass sie ein dreidimensionales Vexierspiel zwischen Fläche und Raum ergeben. Isabelle Graeffs (1977) Dias reflektieren die Beziehung zu ihrer Mutter. Eine weitere, melancholisch gefärbte Serie zeigt Großbritannien vor der Brexit-Entscheidung: Situationen des Abschieds. Morgaine Schäfer (1989) präsentiert sich in antiquiert erscheinenden Posen und setzt anachronistische Bezüge zu digitalen Selfies. Reste von Burganlagen, keltische Kreuze: Jewgeni Roppel (1983) widmet sich der Geschichte und Gegenwart Irlands. Vergangenem Leben urzeitlicher Wesen spürt Mårten Lange (1984) nach. Seine Werkgruppe „The Mechanism“ entwirft ein Bild einer von Kälte gezeichneten urbanen Welt.
Die Ausstellung
„Gegenwart | Erinnerung“ ist von heute bis 20. Dezember zu sehen im Kunstwerk Sammlung Klein, Siemensstraße 40, in Eberdingen-Nussdorf: Mittwoch bis Freitag sowie Sonn- und Feiertag von 11 bis 17 Uhr. Eintritt frei und mit Mund-Nasen-Schutz. Die Besucherzahl ist auf 30 begrenzt, es gelten die allgemeinen Hygiene- und Abstandsregeln. Infos im Internet auf www.sammlung-klein.de.