Ganz neue Seherfahrungen bescheren Fotograf Julian Kirschler (rechts) sowie Komponist Stefan Kling. Sarah Fischer trägt eine der zum Ausstellungskonzept gehörenden Soundwesten.
Moritz
Kultur
Fotografien werden zum körperlichen Erlebnis: Immersive Ausstellung "cloud.cuckoo.land LAB" im Kreativzentrum

Pforzheim. Warnung: Diese Ausstellung ist eine körperliche Erfahrung und kann ungeplante Emotionen hervorrufen. Und gerade deshalb sollten Sie sie besuchen, zumal der Fotograf Julian Kirschler im kongenialen Zusammenwirken mit den Musikern und Komponisten Stefan Kling und Mathias Freimann zu einer Kunsterfahrung einlädt, die es so in Pforzheim noch nie gab. "cloud.cuckoo.land LAB" wird am Freitag um 19 Uhr im EMMA-Kreativzentrum eröffnet.

"Immersiv" nennt sich diese Art der Ausstellung, weil sie drei Sinne – Sehen, Hören und Fühlen – intensiv anspricht, weil sie den Besucher in eine andere – und auch seine ganz eigene – Welt hineinversetzt. Wie das funktioniert? Multimedial.

Der Sound, in 3D-Audio, wird interaktiv dem jeweiligen Standort des Betrachters im Ausstellungsraum und seiner Blickrichtung entsprechend in Echtzeit auf den Kopfhörer gestreamt und über eine Soundweste körperlich spürbar gemacht.

Zu erleben sind zehn Arbeiten aus Julian Kirschlers Foto-Serie "High Noon", die der gebürtige Pforzheimer in der Lockdown-Phase der Pandemie aufgenommen hat – in Pforzheim, in verschiedenen europäischen Metropolen, aber auch aus der Gondel mit Blick auf den Mont Blanc.

Spontane Trips während Corona

Ganz spontan hat er sich meist auf den – durch Corona beschwerlichen – Weg gemacht, beispielsweise im Januar nach Madrid, als ein Wintereinbruch die spanische Hauptstadt in ein weißes Gewand hüllte. Und so bestimmt das Bild der Stadt nicht die übliche Menschenmenge, sondern ein aufgetürmter Schneehaufen, während die Statuen an den Gebäuden verwundert nach unten schauen.

Es ist ein genauer Blick, den die Fotografien Kirschlers einfordern. Denn ganz subtil hat er sie verändert: Manches wirkt wie durch einen Schleier und leicht verzerrt, anderes, ihm wichtiges, deutlich hervorgehoben. Und manches jagt dem Betrachter regelrecht Schauer über den Rücken. Etwa wenn in den beiden animierten, einander gegenübergestellten Fotografien der Mont-Blanc-Gletscher schmilzt und das Hochwasser in Venedig unaufhörlich steigt.

Kirschlers Fotografien sind unter anderem in Pforzheim (am Zentralen Omnibusbahnhof, links) entstanden.
Moritz

Manchmal spielte ihm dabei der Zufall in die Hände: Morgens hört er im Radio, dass während der Pandemie die Zahl der häuslichen Gewalttaten stark angestiegen sei. Und sieht in Hamburg diese Szenerie: Lange Fensterfronten gewähren keinen Einblick, in das, was sich in den Räumen gerade abspielt, während im Vordergrund das Bucerius Forum für seine Ausstellung mit Werken von David Hockney wirbt.

Dessen Gemälde "My Parents" von 1977 zeigt seine Eltern in häuslicher Umgebung, die keinerlei Kontakt zueinander aufnehmen. Eine bedrückende Atmosphäre, die durch die Musik noch verstärkt wird: Im Kopfhörer erklingt die Stimme eines Radiosprechers, der 1977 den Song "What The World Needs Now Is Love" von Dionne Warwick anmoderiert. Doch die süße Melodie über die Welt, die Liebe braucht, verklingt schnell, wird zur bedrohlichen Klangkulisse.

Pforzheimer erstellen Soundscapes für die Werke

Der Pforzheimer Stefan Kling und der Hamburger Mathias Freimann haben die Soundscapes für die Werke erstellt – mit großem Einfühlungsvermögen in die Kirschlersche Bildwelt und Gespür für das Verstörende, Kantige. Denn häufig beginnen die mehrminütigen Einspielungen ganz harmlos, da zwitschern Vögel, da rauscht die Züricher Limmat, da erklingt Jahrmarktmusik zum sich im menschenleeren Rund drehenden Pferdekarussell.

Doch das Grauen lauert bereits: Die Töne werden bedrohlich, tiefe Bässe und hohe Streicher, Synthesizer-klänge und Stimmen im Hintergrund steigern die dystopischen Bildszenerien.

Bei der Fotografie "dampf.sitte.klärung" dröhnen die Kanonenkugeln in den Ohren: Eigentlich liegt "The World", das erste als Privatresidenz ausgestattete Kreuzfahrtschiff, coronabedingt im Hafen fest. Doch in der Animation schießen Schornsteine hoch, die Dollar-Zeichen ausspucken und schließlich alles in dunklen Rauch hüllen.

Kunst mit einem kleinen Augenzwinkern

Die Titel seiner Bilder generiert der 58-Jährige mithilfe des Systems "What3Words", das es ermöglicht, die geografischen Koordinaten von Standorten in drei durch einen Punkt getrennten Wörter zu codieren. So lassen sich in der Schau auch die exakten Aufnahmeorte nachvollziehen.

Doch so schauerlich die Städte und verwaist die Plätze in den zum Teil als Backlight Latexprint präsentierten Arbeiten auch scheinen – ein bisschen Augenzwinkern muss sein. Auf dem größten, zwei mal drei Meter großen Textilprint, gähnt dem Betrachter das leere Schwimmbecken des "Tropical Islands"-Spaßbads in Südbrandenburg entgegen – mit wechselnden Sounds bei jeder Bewegung des Betrachters.

Für Kirschler eine amüsante Idee, ein leeres Schwimmbad in einem leeren Schwimmbad zu zeigen: Mittels 3D-Scans können die Fotografien nämlich virtuell in der alten Halle des Emma-Jaeger-Bads betrachtet werden.

Die Ausstellung im EMMA-Kreativzentrum ist bis 15. November täglich von 11 bis 19 Uhr geöffnet. www.highnoon.art