Vor den Augen des Publikums: links die vorproduzierten Videos. Rechts die Live-Projektion dessen, was Beate Engl mit Leonie Felle ein Stockwerk darunter darstellen.
„Alles defekt, alles defekt, was man Freiheit nannte“: Franka Kaßner ironisiert und spricht aus – ein spöttischer Geist, nicht in der L age, Probleme zu lösen. Koß
Kultur
„In Trümmern liegt die Stadt“ – Ausstellungseröffnung von „Prekärotopia“ beeindruckt in Pforzheim
  • Leon Koß

Pforzheim. Mit einer fast schaurig anmutenden Melodie aus einer Drehorgel beginnt die Vorstellung des Singspiels „Prekärotopia“ im A.K.T; (Alfons-Kern-Turm). Puppenhaft dreht Franka Kaßner die kleine Holzorgel an und blickt den Zuschauern dabei tief in die Augen.

Kaßner ist eine der drei Künstlerinnen, die die Vor- und Ausstellung „Prekärotopia“ mit Musik, Text, Bildern und Performance erarbeitet haben. Diese Disziplinen verschmelzen in dem zeitgenössischen Singspiel zu einer Flut an Bildern, Sound und Parolen. Im vergangenen Jahr feierte es im Münchener Lenbachhaus Premiere und wurde am vergangenen Wochenende an vier Terminen in Pforzheim aufgeführt.

Franka Kaßner, Leonie Felle und Beate Engl zeigen damit, wie Corona – ein nahezu dystopisches Ereignis für die Kulturszene – Künstler dazu zwingt, im praktischen Sinne umzudenken und mit den geltenden Regeln eine neue Form und Umsetzung künstlerischer Denkweisen zu schaffen. Mit „Prekärotopia“ ist in den Räumlichkeiten des Alfons-Kern-Turms ein Kunstwerk auf buchstäblich mehreren Ebenen entstanden, das in seiner Präsenta- tion und Darstellung wohl den meisten Zuschauern neu und entsprechend aufregend vor Augen und Ohren führt, wie mit Medien und Technik gespielt und experimentiert werden kann. Wie auf unterschiedlichen Ebenen, durch gleichzeitige An- und Abwesenheit der Künstlerinnen eine neue, vielleicht noch unbekannte Form der Präsenz geschaffen wird. Die Zuschauer sitzen vor zwei Leinwänden, die jeweils verschiedene Sequenzen zeigen. Zum einen vorgefertigte Filme, produziert von den Künstlerinnen und dem Berliner Kameramann Adrian Campean. Zum anderen ein Livestream, ebenfalls gefilmt von Campean, der eine cineastisch anmutende Direktheit erschafft. Die hohe Qualität der Aufnahmen lassen vergessen, dass die eigentliche Performance direkt ein Stockwerk unter den Zuschauern stattfindet.

Die Sequenzen, die auf die Leinwände projiziert werden, ergänzen sich, kontrastieren und erweitern in Wechselwirkung zueinander den vorwiegend musikalisch verarbeiteten und gesungenen Kontext. Das Singspiel setzt sich aus zwölf von den Künstlerinnen komponierten und getexteten Songs zusammen. Der Sound variiert zwischen Punk und Pop und positioniert die einzelnen Figuren, Poupée (gespielt von Leonie Felle), Trickster (Franka Kaßner) und Speaker (Beate Engl) im System „Prekärotopia“. Mit den Charakteren verändert sich auch die Musik im Laufe des Abends und steuert auf das vielleicht unausweichliche Scheitern einer jeden Utopie zu. Prekärotopia zerfällt, wird demontiert und zerstört, die „Stadt in Trümmer“ gelegt. So entlassen die Charaktere das Publikum durch die zerstörte Kulisse mit dem letzten Satz: „Keiner für alle, niemand für jeden, viele und Andre, einer allein.“ Ganz nach Brechts Philosophie des Epischen Theaters bleiben keine Zerstreuung, Hoffnung oder Zuversicht.

Der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano beschrieb seine Vorstellung einer Utopie so: „Die Utopie befindet sich am Horizont. Ich nähere mich zwei Schritte, sie entfernt sich zwei Schritte“.

Ein 45-minütiger Live-Mitschnitt des Singspiels aus dem A.K.T; im Internet unter pzlink.de/singspiel. Die Ausstellung „Prekärotopia“, Theaterstraße 21 in Pforzheim, ist bis 6. Dezember zu sehen: donnerstags bis samstags von 15 bis 19 Uhr, sonntags von 11 bis 19 Uhr.