Akribisch arbeitet sich Ottilie Karst täglich durch die PZ.
Moritz
Pforzheim
Als junges Mädchen – und bis zum 90. Lebensjahr: Der PZ ein Leben lang treu

In einer Zeit, in der eine Geschichte nicht kurz und knackig genug geschrieben sein kann, ist Ottilie Karst eine Ausnahme. Die 90-Jährige will lesen – je gründlicher und mehr, desto besser. Ihre Heimatzeitung studiert die Pforzheimerin seit ihrer Jugend.

Angefangen hat alles mit dem Roman, erinnert sich Ottilie Karst. Den hat das junge Mädchen noch zuhause an der Östlichen, wo die Eltern Weinacker ein Lebensmittelgeschäft betrieben, in der Zeitung gelesen. Hat ihn verschlungen und war enttäuscht, weil sie für die Fortsetzung wieder einen Tag warten musste. Als Ottilie Karst, geboren 1929, Kind war, wurde noch der Vorläufer der PZ – die „Rundschau“ – herausgegeben. Nach dem Krieg – die Familie war ausgebombt worden und bei Verwandten im Enzkreis untergebracht – erstand wie die Stadt selbst 1949 auch die PZ wieder und begleitete Ottilie Karst. Durch die ersten Jahre mit Mann und zwei Kindern in Göbrichen, später während der Mittagspause in der „Nordsee“, wo Ottilie Karst jahrelang als Fischverkäuferin gearbeitet hat, und bis heute, wenn die 90-Jährige akribisch die Zeitung durchforstet, von vorne bis hinten. Etwas weniger genau vielleicht den Sportteil – „Fußball interessiert mich halt nicht so“, meint die vierfache Oma und Uroma und zuckt die Schultern.

Was sie gerne liest, sind dagegen die Artikel über ihren Enkel, den Jungpolitiker Leandro Karst aus Gräfenhausen. Einen Blick verdient morgens nach dem Aufstehen zuerst die Titelseite, die Überschriften kann Ottilie Karst noch ohne Brille lesen. Dann wird die Zeitung umgedreht, und die Todesanzeigen werden studiert. Hernach lässt sich Ottilie Karst vom Pflegedienst bei den ersten Handreichungen des Tages helfen, bevor sich die 90-Jährige der intensiven Lektüre der Zeitung widmet. Das Abo teilt sie sich heute mit einem Nachbarn im Mehrfamilienhaus an der Östlichen. Wenige Bekannte sind nur noch geblieben im Quartier, in dem Ottilie Karst seit den frühen 1970er-Jahren wieder wohnt. „Meine Mutter ist ein Stadtkind“, sagt Tochter Sabine Sandkühler. Weg wollen habe sie nie.

Heute fällt es Ottilie Karst aus gesundheitlichen Gründen schwer, ihre vier Wände zu verlassen. Sie braucht Hilfe – wie so viele an Lebensjahren reiche Menschen. „So ist das halt“, sagt die alte Dame und blättert ein bisschen weiter durch die Zeitung. Die Kommunalwahl im Frühsommer hat sie verfolgt, wer da jetzt in der Stadt regiert, das kriegt sie nicht zusammen – „aber wenn Sie mir die Namen sagen, weiß ich es“. Den schweren Brand, ausgelöst im Juni von einer vergessenen Kerze in ihrer Nachbarschaft, hat sie nachgelesen und die AKK, über die soviel in der Zeitung steht, die mag sie nicht so recht leiden. „Zwar kann sie die Inhalte nicht mehr wiedergeben, da das Gedächtnis ihr ein Schnippchen schlägt, aber das Interesse an den Nachrichten in der PZ ist ungebrochen“, beobachtet Sabine Sandkühler. Und die Mutter kommentiere so einiges, was sie liest: „Ich bin manchmal ganz überrascht, was du so raushaust“, meint ihre Tochter und lacht. „Des isch doch grad rechd, sonsch dädsch dus ja scho vorher wisse“, gibt die Mutter launig zurück.

Den Fortsetzungs-Roman liest sie heute übrigens nicht mehr. Irgendwann habe sie es bleibenlassen, sagt Ottilie Karst, weil der täglich immer viel zu früh geendet habe – „Fortsetzung folgt, dabei hätte ich immer noch mehr davon lesen können“.

Diese Geschichte ist Teil der großen Jubiläumsausgabe, die am 1. Oktober 2019 erschienen ist. Die PZ gibt es an diesem Tag seit genau 70 Jahren. Die Geschichte der Zeitung in Pforzheim ist noch ein gutes Stück älter. Seit 225 Jahren wird über das Geschehen in und rund um die Stadt geschrieben und gelesen. Kommen Sie mit auf eine Zeitreise.

Die komplette Jubiläumsausgabe als PDF finden Sie online hier.