Auf insgesamt über 200 Seiten haben Simon Walter und Julia Falk die rund 4000 Polizei-Pressemiteilungen analysiert und kategorisiert.

Meyer
Pforzheim
Ausgezeichnet: Konrad-Adenauer-Preis für PZ-Serie "Verschwiegene Verbrechen"

Schon die nackte Zahl überraschte im Vorjahr viele PZ-Leser: 3,7. So viele Prozent der Straftaten, die 2016 im Bereich des Polizeipräsidiums Karlsruhe (Pforzheim, Enzkreis, Landkreis Calw, Stadt- und Landkreis Karlsruhe) begangen wurden, hatte die Polizei in Pressemitteilungen vermeldet. Unter anderem blieben Gewaltdelikte, Volksverhetzungen, Diebstähle und Betrugsfälle oft im Verborgenen. Herausgefunden hatte dies die „Pforzheimer Zeitung“ durch eine wochenlange Datenanalyse. Die darauf folgende Serie „Verschwiegene Verbrechen“ wurde nun mit dem zweiten Platz in der Hauptkategorie des Konrad-Adenauer-Preises belohnt. Rund 400 Beiträge waren eingereicht worden.

„Qualitätsjournalismus setzt sich auch in Zeiten von Facebook und Co. durch“, betont der geschäftsführende Verleger Thomas Satinsky angesichts der Auszeichnung. „Die PZ versucht, dazu die nötigen Rahmenbedingungen für ihre Mitarbeiter zu schaffen und ist deshalb stolz auf die Preisträger.“ PZ-Redakteur Simon Walter und die damalige PZ-Praktikantin sowie freie Mitarbeiterin Julia Falk hatten alle Pressemitteilungen des Polizeipräsidiums Karlsruhe nach verschiedenen Indikatoren analysiert – darunter die Art und der Ort des Delikts sowie die Frage, auf welche Herkunft des Täters die Beschreibung schließen lässt. Die Ergebnisse verglichen sie daraufhin mit der polizeilichen Kriminalitätsstatistik, die alle gemeldeten Straftaten umfasst.

Empörter Leser liefert die Idee zur Recherche

„Ausgangspunkt für die Recherche war der Anruf eines Lesers aus Ölbronn-Dürrn“, erinnert sich Walter. Der Mann habe sich darüber gewundert, dass von den Einbrüchen in seiner Straße nichts in der PZ zu lesen war. Er sei davon ausgegangen, dass Medien über jedes Delikt von der Polizei unterrichtet werden. „Das ist aber nicht der Fall. Die Polizei entscheidet, worüber sie die Öffentlichkeit von sich aus informiert“, erklärt Walter. „Auch von den Einbrüchen hatten wir erst durch den Anruf erfahren.“ Insgesamt hatte sich 2016 jedoch jeder dritte Wohnungseinbruch in der Region in Polizei-Pressemitteilungen wiedergefunden – ein überdurchschnittlich hoher Wert.

„Zum Teil veröffentlichen die Beamten Straftaten aus guten Gründen nicht“, sagt Preisträgerin Falk. „Schließlich zählte die Polizei 2016 im Schnitt fast 200 Delikte pro Tag. Darunter sind auch viele kleine, kaum erwähnenswerte Straftaten wie Schwarzfahren. Aber auch manche Sexualdelikte im privaten Umfeld behält die Polizei zurecht für sich, wenn es dem Schutz des Opfers dient.“ Zum Teil erfolge die Auswahl, was veröffentlicht wird und was nicht, aber auch, um polizeieigene Interessen zu fördern: „Auffallend war etwa, dass die Polizei über viele Deliktgruppen mit niedriger Aufklärungsquote – etwa im Bereich der Computerkriminalität – nur selten informierte“, so Falk. Und Walter ergänzt: „Über Körperverletzungen gab es meist nur dann Pressemitteilungen, wenn diese mit einem Zeugenaufruf oder einer Erfolgsmeldung der Polizei verbunden waren.“

Auch in der Debatte um die Herkunft von Tätern leistete die Analyse einen Beitrag. So fanden die Autoren der Serie heraus, dass in Pressemitteilungen, in denen die Polizei einen Tatverdächtigen beschrieb, zehnmal häufiger von einem migrantischen als von einem deutschen oder mitteleuropäischen Aussehen zu lesen war. Bei geschnappten Verdächtigen nannten die Beamten 20-mal häufiger eine ausländische als eine deutsche Herkunft. „Auch deswegen entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, dass Straftäter mehrheitlich Ausländer seien“, erläutert Walter. Häufig werde in Meldungen über Festnahmen auch gar keine Herkunft genannt. „Fälschlicherweise wird daraus dann besonders in Kommentarspalten oft geschlossen, dass der Verdächtige Ausländer sei und dies verschwiegen werde“, so Walter. Zwar sind Ausländer in der Kriminalitätsstatistik des Polizeipräsidiums Karlsruhe im Vergleich zu ihrer Zahl tatsächlich überrepräsentiert – aber bei weitem nicht so deutlich. In absoluten Zahlen werden mehr Deutsche straffällig.

Unterschied zwischen gefühlter und realer Kriminalität

„Mit der Recherche konnten wir zeigen, wie sich die gefühlte Kriminalität von der realen unterscheidet“, sagt Falk. Das sich die Wahrnehmung auch von Ort zu Ort stark unterscheide, liege auch am Mitteilungsverhalten der Polizei: „Aus Ispringen wurde nur jede 41. Straftat durch die Polizei vermeldet, aus Kämpfelbach dagegen jede fünfte.“ Diese Analyse sei auch deswegen so wichtig, weil „Polizeimeldungen die meist gelesenen Inhalte einer Zeitung und im Internet sind“, sagt PZ-Chefredakteur Magnus Schlecht. „Diesen kritisch und analytisch auf den Grund zu gehen, ist vor allem in der Fakenews-Debatte eine grandiose Fleißarbeit.“

Hier stehen alle Teile der Serie "Verschwiegene Verbrechen" in einem PDF gebündelt zum Download bereit.

Julia Falk war zum Zeitpunkt der Serie Praktikantin und freie Mitarbeiterin der "Pforzheimer Zeitung". Noch bis Ende Juni studiert die 22-Jährige Crossmedia-Redaktion an der Hochschule der Medien in Stuttgart und schreibt ihre Bachelor-Arbeit. 

Simon Walter war zum Zeitpunkt der Serie Crossmedia-Redakteur der "Pforzheimer Zeitung". Heute leitet der 32-Jährige das Digitalressort der PZ. Auf Twitter ist er dennoch weiterhin mit dem Namen "ressortlos" zu finden.

Die Begründung der Jury im Wortlaut: „Wie sicher fühlen wir uns in unserem Alltag, und wie sicher leben wir tatsächlich? Was und wie Medien berichten, beeinflusst in hohem Maße, wie Menschen die Wirklichkeit wahrnehmen. Verantwortung dafür trägt – neben den Medien selbst – auch die wichtigste Quelle für Informationen über Kriminalität, die Polizei. Sie entscheidet mit der Themenauswahl für ihre Pressemitteilungen, von welchen Delikten und Tatverdächtigen die Öffentlichkeit erfährt und von welchen nicht. Die Journalisten Julia Falk und Simon Walter haben 4000 Pressemitteilungen aus dem für die Region zuständigen Polizeipräsidium und 70000 Straftaten analysiert. Sie stellen die – für viele Leser überraschende – Diskrepanz zwischen veröffentlichter und realer Kriminalität dar und machen die Kriterien deutlich, nach denen Informationen in die Öffentlichkeit gelangen. Nicht Polizei-Bashing ist ihr Anliegen, sondern journalistische Selbstreflexion durch Transparenz über grundlegende Mechanismen medialer Vermittlung. Ein gelungenes Beispiel für lokalen Datenjournalismus und ein wichtiger Beitrag zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Informationen.“

Den 1. Preis vergibt die Jury in diesem Jahr an die Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten für die investigative Recherche zu einem Bandenkrieg zwischen Rockerclubs. 2. Preisträger ist die Pforzheimer Zeitung für die Serie  „Verschwiegene Verbrechen“.  Weitere acht Preise sind in verschiedenen Kategorien an Journalistinnen und Journalisten folgender Medien vergeben worden: Kieler Nachrichten, Main-Post, Nordkurier, Nordwest-Zeitung, Stuttgarter Zeitung, Tölzer Kurier, Weser-Kurier und Zeitungsverlag Waiblingen. Zwei Auszeichnungen für Volontäre gehen an die Badische Zeitung und die Allgemeine Zeitung Mainz.

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