PZ-Redakteur Marek Klimanski blättert im Buch von Joachim Becker. Der damalige Pforzheimer OB formulierte den Sozialstaats-Satz des heutigen Bundeskanzlers bereits 1994.
Klimanski
Pforzheim
Der unbezahlbare Sozialstaat - eine Diagnose, made in Pforzheim

Pforzheim. Mit der Aussage „Der Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar“ hat Bundeskanzler Friedrich Merz dieser Tage polarisiert. Unabhängig davon, dass er wohl recht hat: Diese These kommt in der neueren deutschen Geschichte gefühlt jedes Jahrzehnt einmal groß in Mode. Als wörtliches Zitat dürfte sie eine Pforzheimer Erfindung sein – von einem Sozialdemokraten, dem damaligen OB Joachim Becker. Und bereitete den Boden für die Hartz-Reformen seines Parteifreunds Gerhard Schröder mit vor.

Eine Kolumne von PZ-Chefreporter Marek Klimanski

Grauköpfe wie mich kennzeichnet, dass wir nicht nur mit dem Nahen des Herbsts diesen „Da ist er wieder“-Moment haben, sondern zunehmend thematisch. Bei der Schlagzeile „Merz: Sozialstaat nicht mehr finanzierbar“ etwa. Der damalige CDU-Bundeskanzler Helmut Kohl sagte bereits in seiner ersten Regierungserklärung 1982: „Zu viele haben zu lange auf Kosten anderer gelebt.“ Und gewann die anschließende Bundestagswahl haushoch. Es war dann aber ausgerechnet sein SPD-Nachfolger Gerhard Schröder, der mit den Hartz-Reformen die schärfste Einschränkung in der Sozialpolitik vornahm. Aus Sicht linkerer Sozialdemokraten hat Schröder damit die SPD ruiniert – auch wenn die Partei mit ihm im Jahr 2005 noch einmal aus heutiger Sicht unfassbare 34 Prozent holte, während sich die Partei nach ihm mehr als halbierte.

Mit zu den Wegbereitern des Schröder’schen Kurses in der SPD darf man sicher den damaligen Pforzheimer Oberbürgermeister Joachim Becker zählen. Und von ihm stammt dann bereits im Jahr 1994 auch tatsächlich der Satz, den nun der christdemokratische Bundeskanzler Friedrich Merz quasi identisch gesagt hat: „Unser Sozialstaat ist nicht mehr finanzierbar.“ Nachzulesen in Beckers 160 Seiten starkem Büchlein „Der erschöpfte Sozialstaat“, dort bereits in der Einleitung. Aus der Sicht eines Kommunalpolitikers und Rathauschefs einer damals bereits gebeutelten Stadt hatte er sich ans Thema gemacht und sich unter anderem der Frage gewidmet, ob staatliche Stütze die Menschen in Unselbstständigkeit und damit letztlich in Armut festhalte. Das Werk brachte ihm bis zum heutigen Tag die habhafte Abneigung von Menschen aus dem Sozialsektor ein. „Ein fürchterlicher Schinken ohne Substanz mit viel Polemik und Halbwahrheiten“, schrieb mir ein bekannter Pforzheimer erst neulich über Beckers Buch. Das füllt die Kassen nun aber auch nicht. Vielleicht hätte man längst eine Steuer auf polemische Debatten über den Sozialstaat erheben sollen – und diesen damit finanzieren. Wäre ganz schön was zustande gekommen im Lauf der Jahre, mit so einem Nöli-Soli.

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