Sie sind Juden, und wollen sich deswegen nicht verstecken: Shanny Tal, Sharon, Nadja, David, Rami Suliman und Rabbiner Michael Bar-Lev (von links) stehen zu ihrem Glauben. Dennoch bereitet manchen von ihnen der wachsende Antisemitismus Sorgen.
Moritz
Pforzheim
Nach dem Anschlag in Halle: Wie Juden in Pforzheim mit Antisemitismus umgehen

Nach dem rechtsextremen Anschlag in Halle ist die Diskussion um Antisemitismus in Deutschland wieder aufgeflammt. Auch in den Köpfen der Juden in Pforzheim hat die Tat ihre Spuren hinterlassen – und ihre Ängste weiter geschürt. Verstecken wollen sie sich aber nicht. Acht Gemeindemitglieder haben der PZ erzählt, wie sie das Erstarken rechter Parteien empfinden, wo ihnen antijüdische Parolen im Alltag begegnen und was sie sich von Politik und Gesellschaft wünschen.

Dieser Artikel ist eine der 19 "PZ-Storys des Jahres". Was hat es damit auf sich? Pünktlich zum Jahreswechsel hat PZ-news die Geschichten des Jahres zusammengestellt: Ein - unvollständiger - Blick auf die besten, spannendsten und bewegendsten Texte, Bilder und Multimediareportagen des Jahres 2018. Diese sind jedoch kein klassischer Jahresrückblick. Vielmehr handelt es sich bei der Zusammenstellung - ganz subjektiv - um einige Lieblingsgeschichten der PZ-news-Redaktion. Sie gingen zu Herzen, bewegten die Menschen, lösten Diskussionen aus. Eine Übersicht über all diese 19 ausgewählten Geschichten erhalten Sie hier.

Freitagnachmittag, nur wenige Stunden vor dem Beginn des Schabbat. Vor der Synagoge an der Emilienstraße lehnen zwei Polizeibeamte im Türrahmen ihres Streifenwagens und unterhalten sich. Passanten werfen ihnen über die Schulter neugierige Blicke zu. Bis sie das mannshohe und blickdichte Tor an der Einfahrt zur Synagoge sehen und merken, wo sie sind. Dann ein Nicken. Dahinter, im Hof des jüdischen Gotteshauses, steht ein Pavillon, darin Bierbänke und Tische. Die jüdische Gemeinde hat sie für das Laubhüttenfest aufgebaut. Schon wenige Tage zuvor trafen sich die Pforzheimer Juden hier für ein Fest – anlässlich von Jom Kippur, dem höchsten aller jüdischer Feiertage. Genau an dem Tag, an dem ein 27-jähriger Deutscher in Halle versuchte, in die dortige Synagoge einzudringen, um Juden zu töten. Eine Tür rettete Leben. Am Ende starben dennoch zwei Menschen, erschossen auf offener Straße und in einem Imbiss.

Während des Gottesdiensts vom Anschlag erfahren

„Ich habe einen Freund, der in dieser Synagoge war“, erzählt David. Der 17-Jährige selbst hat – wie viele andere der rund 370 Mitglieder jüdischen Gemeinde in Pforzheim – während des Gottesdiensts von dem Anschlag erfahren. Vom Pförtner der Synagoge, der als Nicht-Jude als einziger ein Smartphone nutzen konnte. Noch am selben Tag begann die Polizei, das Pforzheimer Gotteshaus zu überwachen. Monate, nachdem die Gemeinde den Wunsch nach einem besseren Objektschutz geäußert hatte. „Nur mit Polizei vor der Tür fühlen wir uns sicher“, sagt Nadja, Mutter von David. Ein Umstand, der die 47-Jährige, die sich selbst als stolze Jüdin bezeichnet, traurig macht. „Wir wollen uns hier nicht wie in einer Burg verschanzen. Aber wir wollen ein Gefühl von Sicherheit“, sagt sie. Wie berechtigt diese Ängste seien, zeige das Attentat in Halle. „Ein Schock“, so Shanny Tal, sei die Nachricht gewesen. Wie David war die 31-Jährige zum Zeitpunkt des Anschlags in dem ehemaligen Bankgebäude an der Emilienstraße. „Es ist schwer zu glauben, dass so etwas in Deutschland im Jahr 2019 passieren kann. Das wirft die jüdische Gemeinde in diesem Land zurück“, erklärt David.

Wachsender Antisemitismus – auch in Pforzheim

So recht zu überraschen scheint ihn die Tat aber nicht. Denn wie viele andere Gemeindemitglieder spürt der Schüler in den vergangenen Jahren einen wachsenden Antisemitismus. Auch in Pforzheim. Hautnah zu spüren bekam den vor wenigen Monaten die 22-jährige Sharon, wie Shanny Tal Tochter des Vorsitzenden der jüdischen Gemeinde Rami Suliman. Sie war es, die den Kleinbus der rechtsextremen Kleinstpartei „Die Rechte“, der mit Plakaten der Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck im Mai vor der Synagoge vorfuhr, mit Rufen zu verscheuchen versuchte. Wenige Tage zuvor hatten am 11. Mai rund 80 Parteianhänger in der Stadt demonstriert, fast zeitgleich tauchte Wahlwerbung mit Aufschriften wie „Israel ist unser Unglück“ oder „Wir hängen nicht nur Plakate“ auf. Für die jungen Juden, aber auch andere Gemeindemitglieder, ist das nur schwer zu ertragen. „Ich fühle mich da persönlich angegriffen“, sagt Sharon. Dass das Konterfei von Holocaust-Leugnern im Namen der Meinungsfreiheit gezeigt werden dürfe, macht sie wütend. Auch David hat dafür kein Verständnis, wobei er den Antisemitismus nur als Gipfel eines insgesamt spürbaren Rechtsrucks sieht. „Wir haben in Deutschland ein Problem mit Rechtsextremen, auch in Pforzheim. Bevor das Thema Antisemitismus angegangen werden kann, muss man sich erstmal darum kümmern“, so der 17- Jährige. Das Land Baden-Württemberg, so die Ansicht Rami Sulimans, würde die Ängste der Juden aber durchaus Ernst nehmen. Auch an Solidarität in der Stadtgesellschaft mangle es nicht. „Wir spüren viel Zuspruch, wie zuletzt bei der Demonstration am Platz der Synagoge. Wir wissen, wir sind nicht allein im Kampf gegen Antisemitismus“, sagt er. Dennoch kenne er die Ängste vieler Gemeindemitglieder. Beugen, so Suliman, wollten sie sich diesen aber nicht. Im Gegenteil: Nicht-Juden seien ausdrücklich eingeladen, die Synagoge zu besuchen. Denn nur so – da sind sich alle einig – könnten Vorurteile ausgeräumt und das Miteinander gestärkt werden. Damit das Tor der Synagoge hoffentlich irgendwann offen stehen kann.

Antisemitische Straftaten und Vorfälle

Die Zahl der antisemitisch motivierten Straftaten in Baden-Württemberg ist gestiegen – das geht aus dem Bericht des Landesbeauftragten gegen den Antisemitismus Michael Blume vor. Das Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration verzeichnete im Jahr 2018 insgesamt 136 Fälle von antisemitischen Straftaten. Dabei liegt im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung um 37 Prozent vor – 2017 wurden insgesamt 99 antisemitische Straftaten gemeldet. Bei der Erhebung wurden die Straftaten auch nach der ideologischen Motivationen der Täter aufgeschlüsselt: So ordnet das Ministerium 130 der 136 Fälle im Jahr 2018 der rechten Szene zu, vier Taten hätten aus dem Ausland stammenden ideologischen als Hintergründe gehabt, zwei seien aus religiöser Motivation heraus begangen worden. „Antisemitische Hassverbrechen haben zuletzt – bei allgemein sinkender Kriminalität – wieder zugenommen“, wie Blume schreibt. Eine kürzlich veröffentlichte Umfrage des Jüdischen Weltkongresses mit 1300 Teilnehmern ergab, dass jeder vierte Deutsche antisemitische Gedanken hegt. Die Befragung fand vor dem Anschlag in Halle statt.