Pforzheim. „Ein Scherbenhaufen.“ Matthias Platzeck (64, SPD) hebt die Stimme am Donnerstagabend im PZ-Forum – spricht das Wort leicht gedehnt. Ein Moment herrscht Stille pur im gut gefüllten Saal. Kein Hüsteln, durchbricht diesen sonderbaren Augenblick. Eigentlich sitzen wir hier mitten in einer Jubiläumsveranstaltung „30 Jahre Deutsch-Russische Gesellschaft Pforzheim und Enzkreis e.V.“. Scherbenhaufen statt Feierlaune? Ja, „Scherbenhaufen, die deutsch-russischen Beziehungen sind ein Scherbenhaufen“ wiederholt Platzeck. Ähnlich ernst wie vor dem Ersten Weltkrieg sei die Lage. Er fragt: „Wie kommen wir aus diesem Zustand wieder raus?“
Platzeck wäre nicht SPD-Spitzenmann geworden, wüsste er nicht die Richtung, wohin die Reise gehen soll. Der einst als „Putinversteher“ Gescholtene beruft sich dabei auf Willi Brandt und Egon Bahr, den Architekten der Ostpolitik im Kalten Krieg. „Wandel durch Annäherung“ empfiehlt Platzeck uns Bahrs Credo eindringlich. Und: Durch die Brille der Anderen zu schauen.
Platzeck liefert eine einstündige Tour d’Horizon von den Irrungen und Wirrungen im Verhältnis von Russen und Deutschen. Moderator Marek Klimanski, stellvertretender Chefredakteur der gastgebenden PZ, sowie einige Besucher entlocken Platzeck mit Fragen dann zusätzlich Puzzleteile an Details und Einschätzungen. Diese setzen nach gut zwei Stunden ein rundes, aber leicht düsteres Bild vor dem geistigen Auge zusammen. Es zeigt eine in der Wendezeit gedemütigte Ex-Supermacht mit einem autoritären Herrscher Wladimir Putin. Doch dieser Putin ist in Platzecks Augen beileibe nicht der schlimmst vorstellbare Herrscher über das Land und dessen rund 6200 nukleare Sprengköpfe.
In wessen Hände würden diese Waffen fallen, zerfiele die eurasische Macht, wie sich das Hardliner in den USA wünschten? Eine Macht, die in Begriff sei, sich nach China hin auszurichten.
Welche unschönen Puzzleteile hat der Westen laut Platzeck beigesteuert? Um nur einige zu nennen: Die Nato-Osterweiterung, die Ignoranz eines Bundestages, der auf Putins auf Deutsch gehaltene Rede einst keine adäquate Antwort gefunden habe. Zudem sei den Russen die unterschiedliche Gewichtung im deutschen Gedenken unverständlich. Versöhnungsgesten wie in Verdun oder jetzt im Elsaß mit Frankreich vermissten viele Russen.
In der Summe eine „Entfremdung“, wie sie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Moskau neulich angesprochen habe. Diese Entfremdung erkennt Platzeck auf drei Ebenen: Jene der Regierung, der EU und der Zivilgesellschaften. Platzeck bedauert insbesondere, dass Russisch als Fremdsprache hierzulande immer seltener gelernt werde – „meine größte Sorge.“ Hiesige Jugendliche wendeten sich eher gen Westen als nach Osten, um Erfahrungen zu sammeln. Das Wissen übereinander sinke daher.
„Sind die Menschen womöglich weit weniger auseinander als die Regierungen?“, fragt Klimanski. Platzeck meint, Regierung und Medien seien durchaus anders gepolt als das Volk. Was ihn zum Beispiel aber auch bekümmert, dass im neuen Bundestag weit weniger Sachverstand in Sachen Russland vertreten sei, weil Experten wie etwa Gernot Erler (Freiburg) ausgeschieden sind. Und kaum eine Biografie der jungen Nachfolger weise auf Erfahrungen mit Russland hin.
Wie ließe sich das Ukraine-Problem angehen? Blauhelme sollen’s in der Ostukraine richten. Zur Krim: „Rein in eine Kiste, auf der schreiben die Russen: ,Werden wir nicht mehr hergeben!“ – und der Westen formuliert: ,Werden wir nie anerkennen!’ Und dann jene Dinge besprechen, über die man sich einigen könne. Insbesondere uns Deutschen rät Platzeck, die eigenen Interessen unabhängiger von den angelsächsischen Ländern zu vertreten – etwa, wenn es ums Gas und die Ostseepipeline geht.


