77. Frankfurter Buchmesse
Hat für Memorial den Friedensnobelpreis entgegengenommen: Irina Scherbakowa.
Andreas Arnold/dpa
Politik
Friedensnobelpreisträgerin Irina Scherbakowa im PZ-Interview: „Putin braucht den Krieg“

Pforzheim. Erinnern ist Widerstand. Das ist das Motto von Irina Scherbakowa. Sie prägt als Gründungsmitglied der Menschenrechtsorganisation Memorial die Erinnerungskultur in Russland und sorgt dafür, dass Opfer des Stalinismus nicht vergessen werden. Für den Kampf um die Menschenrechte wurde die NGO 2022 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Mittlerweile ist die NGO liquidiert und enteignet, Scherbakowa im Exil. Die Historikerin und Germanistin lebt in Tel Aviv und Berlin. Nun erschien ihr Buch „Der Schlüssel würde noch passen. Moskauer Erinnerungen“, mit dem ist sie am 2. Dezember zu Gast im PZ-Autorenforum ist. Im Gespräch mit der PZ spricht sie über digitale Abschottung, die Normalisierung des Krieges – und die Wirkmacht der Propaganda.

PZ: Frau Scherbakowa, der Titel Ihres Buches heißt: „Der Schlüssel würde noch passen.“ Wie verändert sich Ihr Zugang zur russischen Gesellschaft in der Emigration?

Irina Scherbakowa: Die Hoffnung ist, dass er irgendeinmal vielleicht passen wird. Was meinen Zugang momentan betrifft: Ich verfolge die ganze Zeit Nachrichten, ab und zu schaue ich russisches Fernsehen und verfolge russische Kanäle auf YouTube. Und natürlich rede ich mit den Menschen, die in Russland geblieben sind. Das sind Kollegen und Freunde – über WhatsApp, das noch funktioniert, Telegram ist schwieriger. Auch VPN funktioniert noch. Man muss nur wissen, wie man es richtig installiert. Das ist natürlich Arbeit, aber für Menschen, die diese Verbindung brauchen und das sind sehr viele, die nehmen diese Arbeit auf sich.

Russland schottet sich digital immer stärker ab. Manche Experten sprechen von einem „digitalen Gulag“. Trifft das aus Ihrer Sicht zu?

Für mich als Historikerin bezieht sich der Begriff Gulag auf das ganze Lagersystem in der Sowjetunion, vor allem in der Stalinzeit. Der Gulag wurde ja später aufgelöst. Ich würde eher von Isolation und Zensur sprechen – obwohl die Verfassung Zensur ausdrücklich verbietet. Doch sie findet heute praktisch jeden Tag statt.

Russlands Präsident Putin
Der russische Präsident Wladimir Putin hält eisern an der Macht.
Uncredited/Russian Presidential Press Service/AP/dpa

Hat man mit so einer massiven Zensur gerechnet?

Nein. Genau wie man auch diesen massiven Krieg nicht erwartet hat. Zu Beginn des Krieges wurden fast alle noch unabhängigen Medien verboten. Die wenigen, die heute in Russland arbeiten, kann man an einer Hand abzählen. Bald darauf wurden auch die Verlage angegriffen – unter verschiedensten Vorwänden, etwa wegen angeblicher „LGBT-Propaganda“. Über Homosexualität zu schreiben, ist durch Zensur praktisch untersagt. Und dann die Autoren, die als „ausländische Agenten“ gebrandmarkt oder sogar verurteilt wurden – sie verschwanden aus Buchläden und Bibliotheken. Es wird nicht weniger, sondern mehr.

Wenn man sich heute in Russland informieren möchte – bleiben da überhaupt noch unabhängige Quellen?

Menschen, die VPN nutzen, informieren sich vor allem über YouTube. YouTube ist zugänglich, und dort hat man Zugang zu unabhängigen Medien, die aus dem Ausland berichten. Aber: Die Menschen dürfen nicht spenden, es gibt kein Crowdfunding mehr. Für diese Medien ist das sehr schwierig, weil sie früher auch Unterstützung aus Russland bekamen.

Welche Erkenntnisse haben Sie beim Schreiben des Buches über das heutige Russland gewonnen?

Ich bin in Russland geboren, aufgewachsen und habe über 70 Jahre dort gelebt. Ich habe nicht das Gefühl, dass sich meine Sichtweise verändert hat. Mein Lebensthema sind die Folgen von Stalinistischem Massenterror und Diktatur. Leider sehe ich vieles davon heute wieder lebendig: Wie Angst Menschen verändert, wie Denunziation entsteht, wie man sich anpasst und warum Propaganda wirkt. Überraschend war nur – obwohl es rückblickend eine Illusion war –, dass der Widerstand so klein geblieben ist. Zu Beginn des Angriffskrieges hatte ich das Gefühl, dass eine Katastrophe über uns hereinbricht und viel mehr Menschen das begreifen würden. Es gab Proteste, ja, Menschen gingen auf die Straße – aber nicht in dem Ausmaß, auf das ich gehofft hatte. Das war meine Illusion.

Viele Experten waren sicher, dass Russland diesen Krieg wirtschaftlich nicht lange durchhalten kann. Haben sich alle geirrt?

Ja, viele Wirtschaftsexperten haben sich getäuscht. Das System war viel widerstandsfähiger, als man angenommen hatte. Putin hält – trotz ständigen Drucks, etwa von den Kommunisten – an der Zentralbank fest. Dort arbeiten sehr begabte und erfahrene Manager, die die Geldpolitik lenken. Sie haben Putin tatsächlich geholfen, das System zu retten. Es gibt mehrere Faktoren, warum die wirtschaftliche Katastrophe ausgeblieben ist: der große Binnenmarkt, die Rüstungsindustrie, die sehr viele Menschen beschäftigt, und China. Ohne Unterstützung und Handel wäre es für Putin viel schwieriger geworden, diesen Krieg zu führen. Hinzu kommen die hohen Profite aus dem Öl- und Gashandel, vor allem in den ersten Kriegsjahren. Heute sind sich fast alle Experten einig: Die wirtschaftliche Lage verschlechtert sich – langsamer als erwartet, aber deutlich. Und ja: Putin braucht den Krieg. Was sonst sollte man mit dieser aufgebauten Rüstungsindustrie tun?

Ist die russische Gesellschaft kriegsmüde?

Kriegsmüde nicht. Viele würden den Krieg gern beendet sehen, aber die Mehrheit möchte, dass er zu Russlands Bedingungen endet. Russland darf und wird diesen Krieg nicht verlieren – so lautet das verbreitete Gefühl. Viele Familien sind direkt betroffen: Angehörige waren an der Front oder sind gefallen. Diese Menschen halten fest – sonst hätten sie das Gefühl, alles sei umsonst gewesen. Das ist eine Art Selbstberuhigung. Gleichzeitig gibt es eine Normalisierung des Krieges. Man passt sich an. Das Wort „Krieg“ darf man in Russland ja nicht benutzen – es heißt „Sonderoperation“. Und Russland ist groß: Was in Kursk oder im Süden passiert, spürt man im Ural oder in Sibirien kaum.

Wie unterscheidet sich die heutige Propaganda von der sowjetischen?

Propaganda hat die ganze sowjetische Geschichte begleitet. In den Jahren des Massenterrors unter Stalin war sie absolut hysterisch. Im Laufe der Zeit wurde sie aber immer unglaubwürdiger und immer lahmer. Das ist nicht vergleichbar mit heute. Das ist blanker Hass. Hass vor allem auf die Feinde: Ukraine, Europa, den Westen. Man kann sich in Europa kaum vorstellen, was dort über sie gesagt wird – da wird mit Atomwaffen gedroht. Und die Propaganda ist extrem nationalistisch. Seit der Krim-Annexion 2014 steigert sie sich – bis heute.

Steinmeier in Moskau bei "Memorial"
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier besucht das Menschenrechtszentrum der Organisation «Memorial» in Moskau (Russland) und wird von der Leiterin, Irina Lasarewna Scherbakowa, durch das Archiv geführt.
Bernd von Jutrczenka

Man hat den Eindruck, dass Angst Teil der russischen Identität ist. Braucht das Land nach Putin eine Art Massentherapie?

Ja, nur kann man sich schwer vorstellen, wie eine solche Massentherapie für ein Land wie Russland aussehen sollte. Nach Putin wird es sicher eine Reaktion geben – wahrscheinlich eine Verdrängung. Es ist momentan nicht sehr realistisch, dass es zu einem „Nürnberger Prozess“ kommen wird. Aber ohne Aufarbeitung, ohne die Frage nach Verantwortung, wird Russland keinen Weg in eine demokratische Zukunft finden. Ob ich das noch erleben werde, weiß ich nicht.

Vor 100 Jahren blühte das russische Berlin. Heute präsentiert sich die Opposition im Westen zersplittert. Warum ist diese Einheit so schwer?

Ich glaube, das ist eine Täuschung. Das russische Berlin der 20er-Jahre war extrem zerstritten und unglaublich gespalten. Der Vater des russischen Schriftstellers Vladimir Nabokov, wurde beispielsweise bei einem Attentat von Monarchisten in Berlin 1922 umgebracht. Und das Exil war von sowjetischen Spionen durchsetzt. Natürlich gibt es auch heute im politischen Feld Auseinandersetzungen. Aber keinen Streit über das Regime selbst – über Putin herrscht völlige Einigkeit. Ich würde außerdem die Exil-Russen nicht als Opposition bezeichnen, denn der Begriff ist ein politischer, man kann ihn schwer auf die jetzige Emigration beziehen. Natürlich besteht die Frage: Wer trägt die Verantwortung an dem, was mit Russland passiert ist? Die Antwort darauf ist allerdings schwierig.

Sehen Sie eine Veränderung in der deutschen Haltung gegenüber Russland?

Die Illusionen über Putin und Russland haben in Deutschland viel zu lange gedauert. Und sie halten sich teilweise noch immer. Das ist gefährlich. Wir sehen ja, wohin diese Täuschung geführt hat. Wenn man in Deutschland glaubt, nach dem Kriegsende werde es in Europa wieder „wie früher“, dann ist das ebenfalls eine Illusion.

Irina Scherbakowa stellt am Dienstag, 2. Dezember, ab 19 Uhr ihr Buch im Gespräch mit Organisator Eckhard Mickel im PZ-Autorenforum vor. Karten (10,50 Euro/mit PZ-Abocard 6,50 Euro) gibt’s bei der PZ (Poststraße 5), unter Telefon (0 72 31) 93 31 25 oder unter www.pz-forum.de.

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