Macht Älteren Mut: die freie Journalistin Bettina Musall.
Anna Boldt
Wirtschaft weltweit
Autorin Bettina Musall kommt ins PZ-Forum: „Boomer-Bashing ist wie jedes Klischee albern“

Pforzheimer Zeitung: Frau Musall,sind Sie nach der Veröffentlichung Ihres Buches in das berühmte Loch gefallen?

Bettina Musall: Wissen Sie: Die Bewerbung des Buches muss im Wesentlichen der Autor oder die Autorin selbst übernehmen. Ich bin also rund um die Uhr damit beschäftigt, Literaturfeste und -märkte, Veranstaltungshäuser oder Volkshochschulen anzuschreiben, ob sie Interesse hätten, das Buch vorzustellen. Nach 37 Jahren Festanstellung sind neue Herausforderungen auf mich zugekommen: Ich übe mich gerade als Marketing-Frau.

Sie sind also immer noch berufstätig.

Ja, wobei ich sehr genieße, dass ich die Arbeit selbstbestimmt einteilen kann, dass ich meinem eigenen Rhythmus folgend nicht mehr um 9 Uhr täglich in der Konferenz sitzen muss, was ich früher sehr gerne gemacht habe. Wenn ich mich morgens nach dem Sport an die Arbeit mache, ist es bereits 11 Uhr – das ist sehr komfortabel.

In Ihrem Buch raten Sie Ruhestands-Debütanten, zuerst eine Bilanz zu ziehen, bevor man oder frau nach vorne schaut. Warum?

Wenn man sich die berufliche, gesellschaftliche und persönliche Entwicklungsgeschichte anschaut, kommt man auf Ideen. Ich finde, es ist eine gute Gelegenheit, sich zu überlegen: Wie bin ich hierher gekommen? Was hat mich zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin? Was wollte ich schon einmal machen? Dass man das Leben rückwärts anschauen muss, um nach vorne zu leben, ist eine Binsenweisheit. Im Alltag des Berufswahnsinns zwischen Familie und Arbeit bleibt aber vieles auf der Strecke. Das ist nicht zuletzt der Grund, warum die jüngere Generation darauf drängt, eine andere Work-Life-Balance für sich anzustreben.

Liegt es vielleicht in der Natur ihres Berufes, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen?

Das kann natürlich sein. Aber nicht nur ich halte die Herangehensweise für sinnvoll, auch zahlreiche Forschungen legen dies nahe. Ich will dazu ermutigen, das zu tun – auch wenn wir dabei nicht nur auf Heiteres stoßen. Aber wenn man etwas Ruhe findet und vielleicht mit Freunden darüber reden kann, hilft das einem sehr. Es gibt einem auch das Gefühl, vielleicht so etwas wie ein runderes Leben zu erreichen.

Welche Erkenntnis hatten Sie – etwa, dass Sie weiter schreiben wollten?

Ich hatte zunächst überhaupt nicht vor, weiterzuschreiben. Ich habe gedacht: „Wer weiß, was ich alles noch machen möchte?“ Dazu bilanzierte ich, was ich mal gearbeitet, was mir Spaß gemacht und was ich aufgegeben hatte. Irgendwann im Laufe des Nachdenkens gingen 30 Kolleginnen zwischen 55 und 60 Jahren in den Vorruhestand. Ich dachte: „Große Güte, ist ihnen bewusst, wie viel Lebenszeit sie noch vor sich haben? Wird das in drei oder fünf Jahren für alle immer noch so eine glückliche Entscheidung sein? Werden sie etwas gefunden haben, das ihrem Leben Sinn und Halt gibt?“ Während ich mich mit anderen darüber austauschte, merkte ich, dass das für viele in der Babyboomer-Generation ein Thema ist und dass daraus ein Buch werden könnte. Ich habe dann nebenbei angefangen zu recherchieren. Es gab also einen schleichenden Übergang. Das fand ich sehr wohltuend.

Bis 2036 fallen knapp 30 Prozent der aktuellen Erwerbstätigen weg – das ist eine gewaltige Lücke. Was wird fehlen?

Die Lücke haben wir schon heute – in großen wie in kleinen Betrieben, es gehen jeden Monat rund 80 000 Menschen in Rente. Das kann nicht ohne Folgen bleiben, die Wirtschaft klagt täglich über den Fachkräftemangel. Was fehlen wird, ist das angesammelte Wissen. Zusammen mit dem, was an Innovation in der jüngeren Generation steckt, könnte man das wunderbar nutzen. Mein Wunsch wäre, nicht in einem Generationsbashing zu verharren. Meine Generation muss sich natürlich auch an die eigene Nase fassen und Verantwortung übernehmen. Diejenigen, die noch Lust haben, sollten sich zur Verfügung stellen. Da muss die Politik den Unternehmen mit steuerlichen Anreizen helfen, die Wirtschaft neue Arbeitsmodelle vorschlagen und die jüngere Generation zugreifen und sagen: „Ihr habt in manchen Dingen Mist gebaut, aber nicht nur. Wir brauchen euch und euer Wissen, euer Geld und eure Arbeitskraft.“ Kaum jemand in meiner Generation will noch acht Stunden am Tag arbeiten. Das müssen zwar viele, weil die Rente ihnen nicht reicht, aber diejenigen, die noch arbeiten wollen, die sind sehr zufrieden, wenn sie je nach Bedarf eingesetzt werden.

Sie brechen also eine Lanze für Ihre Generation?

Ich breche eine Lanze für die Willigen in meiner Generation. Das Boomer-Bashing ist wie jedes Klischee albern. Auf der anderen Seite ist an den Vorwürfen nicht alles falsch. Natürlich haben wir ohne Rücksicht auf das Klima gewirtschaftet. Wir hatten keine Augen dafür, wollten teilweise noch das Land aufbauen und vom Wirtschaftsaufschwung profitieren. Man kann das nicht generalisieren, aber ich hoffe, dass sowohl meine als auch die jüngere Generation ermutigt wird, zusammenzuarbeiten.

Gerade wenn es um neue Technologien geht, werden allerdings ältere Mitarbeiter oft aufs Abstellgleis gestellt.

Natürlich müssen ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bereit sein, zu lernen. Dieser Lernprozess muss aber auch rechtzeitig angestoßen werden. Wenn Unternehmen warten, bis die Leute 60 sind, um ein neues Betriebssystem zu lernen, sind sie darauf nicht vorbereitet. Notwendig wäre also ein Kulturwandel. Spätestens ab 50 müssten sich Verantwortliche in Unternehmen mit den Beschäftigten zusammensetzen und fragen: „Was kannst Du, was willst Du noch machen und welche Qualifikationen brauchst Du dafür?“ Es geht nicht nur um die berühmten Fortbildungen – wir brauchen einen aktivieren Umgang. Dass die Gesellschaft einen länger brauchen wird, machen auch die Wirtschaftsweisen deutlich. Das ist keine Kann-Frage mehr.

Als was identifizieren Sie sich dann heute? Als freie Journalistin oder als Rentnerin?

Ich finde es komisch, wenn Menschen sagen „Ich war mal Lehrerin, Anwalt oder Handwerker“. Man ist doch, was man gelernt hat, ein Leben lang. Wenn ich nach meinem Arbeitsstand gefragt werde, dann sagte ich früher: Angestellte. Und heute: in Rente. Aber ich bin natürlich Journalistin und Autorin und das werde ich auch bleiben. Dazu kann ich nur ermutigen. Vielleicht werde ich ja noch etwas anderes – eine Vortragskünstlerin oder Bühnenstar (lacht). Das Buch ist ein Versuch, mit der Thematik, mit meiner Generation und mit mir selbst sowohl ernsthaft wie auch mit Humor und Selbstironie umzugehen. Ohne zu vergessen, dass es Menschen gibt, die in eine ziemlich unerfreuliche Lage geraten, wenn sie in Rente gehen. Auch viele junge Menschen bewegt dieses Thema, weil deren Eltern sich in einer ähnlichen Lage befinden. Es geht nicht nur um Rente und Rentner, sondern um einen neuen Lebensabschnitt: Es ist nolens volens das letzte Lebensdrittel, das für diese Generation anbricht. Und da bietet sich eine Chance, etwas zu verwirklichen, das all die Jahre auf der Strecke geblieben ist.

Zur Person

Bettina Musall ist 1956 in Bremen geboren. Sie war von 1985 bis 2021 Redakteurin beim „Spiegel“. Lange Jahre schrieb die Germanistin und Politikwissenschaftlerin für die Ressorts Politik, Gesellschaft, Sport und Kultur. Heute lebt Musall als freie Autorin und Journalistin in München. 

Am Donnerstag, 23. November, ist Bettina Musall im PZ-Autorenforum (Ecke Post-/Luisenstraße) zu Gast. Von 19 Uhr an stellt sie das Buch „Das kann gut werden. Wie der Einstieg in den Ruhestand zum Aufbruch in ein neues Leben wird“ vor. Karten (10,50 Euro, für Inhaber der PZ-AboCard 6,50 Euro) können unter der Nummer (0 72 31) 93 31 25 reserviert werden.