
- dpa/lsw
Stuttgart. Franz Untersteller fährt schon mal aus der Haut. Am liebsten, wenn jemand von Umweltthemen seiner Meinung nach keine Ahnung hat. Dann nimmt er sich diejenige oder denjenigen zur Brust und doziert. Doch an diesem Donnerstag im Stuttgarter Landtag ist der langjährige Umweltminister so klein mit Hut. Grimmig und mit verschränkten Armen wartet der 63-Jährige auf die Debatte, die sich mit seinem "Fall" beschäftigen wird: Der Umweltminister, der selbst für ein Tempolimit eintritt, ist Ende November auf der Autobahn 57 Sachen zu schnell gefahren und geschnappt worden. Ein wahrhaft gefundenes Fressen für die Opposition so kurz vor Weihnachten. Doch so richtig gut bekommt es ihr nicht. Aber von vorn:
Es ist kurz nach 10 Uhr, FDP-Fraktionschef Hans-Ulrich Rülke sortiert seine gelben Sprechzettel während der eher langatmigen Brexit-Debatte, er freut sich offensichtlich auf seine Attacke auf den grünen Minister. Um 10.13 Uhr kommt der Ministerpräsident noch höchstpersönlich bei Unterstellers Platz vorbei und redet ihm zu. Bloß nicht provozieren lassen, hieß schon vorher die grüne Devise. Wird Untersteller sein Blut ruhig halten können?
Rülke beklagt "grüne Doppelmoral"
Es ist 10.21 Uhr, als Rülke loslegt. Spricht von "einem klassischen Fall grüner Doppelmoral". Hält Verkehrsminister Winfried Hermann vor, in einem vergleichbaren Fall einen CDU-Verkehrsminister in NRW zum Rücktritt aufgefordert zu haben. Zieht die Glaubwürdigkeit der Koalition infrage. Rattert eine Liste von Streitthemen herunter, von Tierversuchen bis hin zu vorgezogenen Schulferien an Weihnachten. Legt den Finger in die Wunde, weil die Grünen-Spitze jüngst die CDU als "Klotz am Bein" bezeichnet hat. Und ruft dem CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart zu:
"Wie, Herr Reinhart, fühlt man sich so als Klotz am Bein?"
Es sei offensichtlich, dass das Bündnis von Grünen und CDU eine "Zwangsehe" sei, das die Wähler im März hoffentlich beendeten.


CDU-Fraktionschef nimmt Temposünder Untersteller in Schutz
Grüne finden Debatte peinlich - für die FDP
Wie wird CDU-Fraktionschef Wolfgang Reinhart (64) reagieren? Haut er drauf auf den Minister des Koalitionspartners oder schont er ihn? Doch erst ist Jürgen Walter dran. Der Grünen-Abgeordnete hat die nicht ganz leichte Aufgabe, Untersteller in Schutz zu nehmen. Walter greift auf die Argumentationslinie zurück: Die Menschen hätten in der Corona-Krise andere Sorgen als einen Minister, der in die Radarkontrolle gekommen sei.
"Diese Debatte ist nicht nur peinlich, sondern sie ist eine politische Bankrotterklärung",
ruft er in Richtung FDP.
Es sei bisher üblich gewesen, im Landtag private Fehler nicht zu thematisieren - "weil niemand den Pharisäer in diesem Hause spielen wollte". Es sei schlimm, dass nun ausgerechnet die FDP - der "Schutzpatron der Raser" - dieses Thema ausschlachten wolle.


Liveblog am Morgen: Rülke will im Landtag über Temposünder Untersteller diskutieren
Reinhart gerät ins Schwärmen - über die Koalition
Nun also ist die CDU an der Reihe. Es ist bekannt, dass es die Partei in der Rolle als kleiner Koalitionspartner der Grünen manchmal nur ganz schlecht aushalten kann. Bevor Kretschmann 2011 sein Amt antrat, hatte die Union fast sechs Jahrzehnte das Land regiert. Es kratzt weiter gewaltig am Stolz der Partei, dass sie nicht den Ministerpräsidenten stellt. Und dementsprechend heißt das Ziel bei der Landtagswahl am 14. März: Rückkehr ins Staatsministerium. Mit Spitzenkandidatin Susanne Eisenmann, bisher Kultusministerin.
Doch statt den Wahlkampf zu eröffnen, singt Reinhart das Hohelied der Koalition. Zuerst zitiert er die Bibel:
"Wer ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein."
Untersteller beende sowieso seine Karriere nach der Landtagswahl. "Lassen wir Milde walten", sagt Reinhart. "Gewähren wir ihm einen ehrenvollen Zieleinlauf." Der CDU-Mann dankt Rülke für die Gelegenheit, die Erfolgsbilanz von Grün-Schwarz aufzählen zu können. "Die Koalition arbeitet hoch verlässlich und hoch erfolgreich."
Und der 64-jährige Reinhart kommt aus dem Schwärmen gar nicht mehr raus: "Wir haben eine erstklassige Erfolgsbilanz aufzuweisen." Grün-Schwarz habe das Land in der Corona-Krise zusammengehalten. Die "Komplementärkoalition" habe sich in den vergangenen fünf Jahren als gutes Modell erwiesen. Die Kritik der Grünen-Spitze an der CDU bezeichnete er als "Getöse" von Nicht-Abgeordneten zu Beginn des Wahlkampfs. "Wir haben in einer Woche Weihnachten, das ist das Fest des Friedens", erklärt Reinhart.
"Lassen wir die Kirche im Dorf."
Die Menschen hätten andere Sorgen als den "Bleifuß" eines Ministers. Kretschmann strahlt von der Regierungsbank herunter.


Untersteller über A8 gerast: „Rücktrittsforderungen sind überzogen“
Untersteller gibt sich demütig
Über 40 Minuten musste Untersteller zuhören, um 11.03 Uhr ist er nun selbst dran. Seit 2006 ist er im Landtag, seit 2011 Umweltminister, fachlich hat er einen guten Ruf. Er weiß, dass er mit der Aktion kurz vor Ende seiner politischen Karriere seine eigene Reputation beschädigt und den Grünen einen Bärendienst erwiesen hat. Er spricht ganz leise:
"Ohne Frage, ich habe einen großen Fehler gemacht."
Er müsse es aushalten, dass er kritisiert werde. Auch die Häme. Doch man müsse schon die Frage stellen, ob man es Politikern noch erlauben wolle, privat Fehler zu machen. Ein Rücktritt komme nicht infrage. Er werde sein Amt bis zur Wahl "gewissenhaft und zum Wohle dieses Landes ausführen". Applaus von Grünen und den meisten CDU-Abgeordneten.
Rülke setzt noch mal nach, beklagt die "Heuchelei" der Grünen, weil Hermann sich nicht zu Untersteller äußern wolle. Doch am Ende wünscht auch er frohe Weihnachten. Eine Werbeoffensive für eine zumindest denkbare Ampel-Koalition mit Grünen und SPD nach der Wahl war das nicht. Der 59-jährige Liberale ist vielen Grünen eh nicht geheuer. Ob man mit ihm besser regieren könne als mit der CDU, sei überhaupt nicht sicher. Dann vielleicht doch nochmal mit der Union.

