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Orange-braun war die beliebteste Farbkombination in den 70er–Jahren, wie an diesem Wohn- und Geschäftshaus an der Zerrennerstraße schön zu sehen ist. 
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Ganz großes Kino: So empfindet Turit Fröbe den Pforzheimer Hauptbahnhof mit Glasfassade und elegantem Flugdach.  
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Das Reuchlinhaus hat die Architekturhistorikerin „regelrecht umgehauen“. 
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Verspielt und elegant: Schmuckgeländer aus den 50er-Jahren (Zerrennerstraße). 
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Ozeandampfer samt Bullauge aus den postmodernen 80ern (Wörthstraße). 
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Mit der gerundeten Fassade und den eingespannten Fenstern greift die Stadtbibliothek in der Analyse der Autorin die Architektur der 20er-Jahre auf.  

„Das hat uns umgehauen“ – Warum eine Berliner Autorin so begeistert von Pforzheim ist

Sie hat eine Leidenschaft für jene Gebäude, über die andere sich bisweilen schrecklich aufregen: die Architekturhistorikerin Turit Fröbe. Mit „Alles nur Fassade?“ hat sie ein bilderreiches Buch geschrieben, in dem Pforzheim eine beachtliche Rolle spielt. Im Gespräch erzählt sie, was sie an der hiesigen Nachkriegsarchitektur so fasziniert.

Dieser Artikel ist eine der 18 "PZ-Storys des Jahres". Was hat es damit auf sich? Pünktlich zum Jahreswechsel hat PZ-news die Geschichten des Jahres zusammengestellt: Ein - unvollständiger - Blick auf die besten, spannendsten und bewegendsten Texte, Bilder und Multimediareportagen des Jahres 2018. Diese sind jedoch kein klassischer Jahresrückblick, wie er am Montag, 31. Dezember, in der Pforzheimer Zeitung zu finden ist. Vielmehr handelt es sich bei der Zusammenstellung - ganz subjektiv - um einige Lieblingsgeschichten der PZ-news-Redaktion. Sie gingen zu Herzen, bewegten die Menschen, lösten Diskussionen aus. Eine Übersicht über all diese 18 ausgewählten Geschichten erhalten Sie hier.

PZ: Frau Fröbe, was waren Ihre Gedanken, als Sie Pforzheim erstmals besuchten?

Turit Fröbe: Als wir für unser Neu-Stadt-Spiel recherchiert haben, bin ich Tag und Nacht durch Pforzheim gestreift – wir waren begeistert. Schon das Ankommen war ganz großes Kino. Der Bahnhof ist eine gebaute Willkommensgeste. Ich kann mich an keine Stadt erinnern, in der ich eine solche Häufung eleganter, qualitativ hochwertiger 1950er-Jahre-Architektur auf so engem Raum gesehen habe: Bahnhof, Gesundheitsamt, Technisches Rathaus – das Amtsgericht hat es mir besonders angetan. Das Reuchlinhaus hat uns regelrecht umgehauen. Die Aluminium-Mondoberflächen, die räumliche Anordnung im Park und spektakuläre Treppe mit der strahlenförmigen Rohbeton-Decke. Grandios!

PZ: Welche architektonischen Epochen und Stilmerkmale sind Ihnen aufgefallen?

Turit Fröbe: Ich hätte am liebsten das gesamte 1950er-Jahre-Kapitel in meinem Buch mit Pforzheimer Gebäuden bestückt. Leider war es damals bereits gesetzt. Deshalb haben sich nur noch Detailaufnahmen eingeschlichen, etwa die Buntglasfenster. Dafür habe ich andere schöne Beispiele integriert: Auf der 70er-Jahre-Seite über Materialien sind Gebäude zu finden wie das orange-braune Wohn- und Geschäftshaus neben dem Theater. Auf der 70er-Seite über Formen ist das Arbeitsamt mit seinen elegant geschwungenen Brüstungsbändern aus Waschbeton verewigt. Ich habe kürzlich gesehen, dass das Gebäude leider umgebaut wird. Ein Jammer! Auch bei den Formen der 80er-Jahre ist Pforzheim präsent – mit einem Tempelmotiv am Sedanplatz und mit einer Schiffsarchitektur, das Bullauge ist ganz prominent zu finden.

PZ: Was ist Ihr Eindruck, wie Stadt und Bevölkerung mit der baulichen Umgebung umgehen?

Turit Fröbe: Wir haben festgestellt, dass die meisten Bürger überhaupt keine Ahnung haben, wie schön ihre Stadt ist, was für tolle Architektur in Pforzheim zu finden ist. Irgendwie hat man sich irgendwann darauf geeinigt, dass die Stadt hässlich ist und seitdem guckt offenbar keiner mehr hin. Wir haben ja bei unserer Recherchereise mit vielen Bürgern gearbeitet und festgestellt, dass unsere Begeisterung für Pforzheim und seine Architektur regelrecht Verwirrung ausgelöst hat. Eine Dame, der ich von der Bahnhofsarchitektur vorschwärmte, von der Eleganz und der Geste, die da mit diesem spektakulären Dach geschaffen wird, sagte dann: „Aber das meinen Sie jetzt schon ironisch, oder?“

PZ: Ein Großteil der Bevölkerung findet die nachkriegsgeprägte Innenstadt also hässlich und voller Bausünden – womit Sie sich in Ihrem vorigen Buch beschäftigten. Haben die Kritiker denn recht?

Turit Fröbe: Ja, ich bin Bausündenexpertin. Aber Pforzheim hat in dem Sinne keine Bausünden – die Architektur ist nur aus der Mode gekommen. Das ist ein ganz normaler Prozess. Der Architekturgeschmack ist launisch. Nach 15 bis 25 Jahren kann man nicht mehr ausstehen, was früher mal en vogue war. Wenn man den Architekturen Zeit gibt und sie nicht gleich reflexhaft abreißt oder überformt, haben sie wieder die Chance, in Mode zu kommen.

PZ: Was ist aus Ihrer Sicht das Charakteristische am Stadtbild?

Turit Fröbe: Pforzheim ist eine total moderne Stadt. Man kann ablesen, dass es nach dem Krieg eine ganz klare Entscheidung für die Moderne gegeben hat. Man hat nicht, wie in den meisten anderen Städten, rekonstruiert und wiederaufgebaut, sondern an die Gegenwartsarchitektur geglaubt. Und faszinierend ist, dass die Stadt bei der Position geblieben ist. Frankfurt, das ähnlich progressiv aufgebaut hat, ist erst mit dem Römer und nun mit der Neuen Altstadt eingeknickt. In Pforzheim wird bis heute immer modern weitergebaut, das finde ich bemerkenswert.

PZ: Wie haben Sie die Stadt in Ihrem Buch eingeordnet?

Turit Fröbe: Pforzheim ist dreimal in dem Gegenwartskapitel Neo-Stile präsent. Diese Stile sind eigentlich eine Pest. Ich habe das Kapitel geschrieben, um zu zeigen, dass wir heute wieder eine Situation haben, die an die der Gründerzeit erinnert. Die gesamte Moderne von 1900 bis zum Ende der 70er-Jahre arbeitet sich an der historistischen Gründerzeitarchitektur mit seinen hirnlosen Stilzitaten ab – heute greifen die Architekten unbekümmert auf sämtliche Stile der Moderne zurück und kaum jemand spricht darüber. Eine ärgerliche Sache. In Pforzheim jedoch verhält es sich mit diesen Neo-Stilen anders. Es handelt sich nicht um hohle Design-Phrasen. Der Busbahnhof ist eine Antwort auf die Bahnhofsarchitektur mit seinem schwebenden Vordach. Auch beim blauen Amtsgerichtsanbau haben Lederer Ragnarsdóttir Oei die bestehenden Formen aufgenommen und weitergedacht. Und der nierentischförmige Rasterbau schräg gegenüber des Bahnhofs passt gut in die Grammatik der Stadt.

PZ: In wie vielen Städten waren Sie unterwegs und wie viele Bilder aus Pforzheim haben es letztlich ins Buch geschafft?

Turit Fröbe: Ich habe drei Jahre lang für das Buch fotografiert – überall, wo ich etwas Interessantes gesehen habe. Naturgemäß sind daher die meisten Abbildungen in Berlin entstanden, weil ich dort lebe. Gezielt reiste ich nach Wien oder Darmstadt für den Jugendstil, nach Hamburg für den Expressionismus oder nach Stuttgart oder Dessau für das Neue Bauen. Dass recht viele Bilder aus Pforzheim ins Buch gefunden haben, also etwa ein Dutzend, ist jedoch durchaus erstaunlich. Wir haben ja auch Recherchereisen nach Esslingen, Ulm und Reutlingen unternommen – und keine der Städte ist im Buch präsent. In Pforzheim war es wirklich die Architektur, die uns nachhaltig beeindruckt hat.

PZ: Was müsste für ein Umdenken also passieren?

Turit Fröbe: Meiner Erfahrung nach reicht es, die Bürger dazu zu bringen, bewusst hinzusehen. Wenn man die Architektur immer nur im Vorbeigehen aus den Augenwinkeln wahrnimmt, stellt sich das Gefühl ein, dass alles hässlich ist. Und wenn man das Gefühl erst einmal hat, sieht man nicht mehr hin. Genau da setze ich mit meiner Arbeit an: mit dem Bestimmungsbuch – indem ich den Bürgern das Wissen zur Verfügung stelle, mit dem sie mehr verstehen können.

PZ: Machen Sie das auch mit Ihrer Arbeit als Stadtdenkerin?

Turit Fröbe: Ja, mit meiner „Stadtdenkerei“ werte ich in einer Woche ganze Städte auf ohne einen einzigen Eingriff, indem ich allein die Wahrnehmung der Bürger verändere. Ich lasse die Bürger entdecken, was sie im Alltag übersehen, für selbstverständlich oder nicht betrachtenswert halten. Ich bringe sie dazu, sich neu in ihre Stadt zu verlieben. Pforzheim würde so ein von außen angeschobener liebevoller Blick, wahnsinnig gut tun.

Turit Fröbe ist Architekturhistorikerin und Urbanistin, Jahrgang 1971. Sie hat an der Uni Hamburg promoviert und später als Gastprofessorin an der Universität der Künste Berlin gelehrt. Mit ihrer „Stadtdenkerei“ entwickelt sie spielerische Strategien zur Baukulturvermittlung. In ihrem ersten Buch „Die Kunst der Bausünde“ (2013) hat sie Viele zum Umdenken bewegt. In „Alles nur Fassade“ zeigt Fröbe jetzt, wie einfach es ist, Architektur zu bestimmen. Sie will helfen, sich zurechtzufinden im Dschungel von Jugendstil, Expressionismus und Postmoderne. Um einen Zugang zu Alltagsarchitektur schaffen, verzichtet sie in ihrem Buch bewusst darauf, Orte und Architekten zu nennen.