
Indien ist ein Land der Widersprüche: Einerseits eine erstarkte Wirtschaftsnation, andererseits von Armut geprägt. Zwischen Bollywood und Spiritualismus steckt auch viel ethnischer Sprengstoff. Einer, der weiß, wie dieses Land tickt, ist Oliver Schulz. Der Journalist hat den Subkontinent seit 1989 oft bereist. Ob in Gesprächen mit Grenzbeamten, Unternehmern oder einfachen Landarbeitern – damals fühlten sich die Menschen frei, mit ihm zu sprechen. Doch das Land hat sich unter Premier Narendra Modi verändert. Wie sehr, das berichtet er in seinem Buch „Neue Weltmacht Indien“. Das für Dienstag, 10. Oktober, geplante PZ-Autorenforum samt Lesung, musste mangels Interesse leider abgesagt werden.
Pforzheimer Zeitung: Herr Schulz, nach der Lektüre Ihres Buches wird man den Eindruck nicht los, dass Indien kurz vor einem Bürgerkrieg steht.
Oliver Schulz: Ich spitze natürlich zu, aber mit dieser Einschätzung stehe ich nicht alleine da. Denn das Thema der gespaltenen Gesellschaft in Indien ist ein großes und unterschätztes Problem. Zur Klärung: Die größte Minderheit im Land sind die Muslime. Seit der indischen Unabhängigkeit im Jahre 1947, als Britisch-Indien in Indien und Pakistan, damals West- und Ost-Pakistan (heutiges Bangladesch), aufgeteilt wurde, ist der Konflikt zwischen ihnen und den Hindus die Sollbruchstelle der indischen Gesellschaft. Von hier rührt der wesentliche Konflikt zwischen Muslimen und Hindus. Die hindunationalistische Partei BJP hat die Büchse der Pandora geöffnet – und kriegt sie nicht mehr zu. So werden seit mehr als einem Jahrzehnt Muslime von selbst ernannten Kuhschützern durch Dörfer gejagt. Oder nehmen Sie die antimuslimischen Pogrome von Gujarat im Jahre 2002: Bei den ethnischen Unruhen starben Schätzungen zufolge 2000 Menschen. Bis heute gibt es immer wieder Übergriffe. Wenn die Entwicklung so weitergeht, und bei den nächsten Parlamentswahlen im Mai 2024 wird die BJP um Premierminister Narendra Modi wohl gewinnen, dann kann das ihnen um die Ohren fliegen.
Aber es ist nicht nur die muslimische Minderheit, die unterdrückt wird. Wie sieht es mit den Sikhs aus? Die Ermordung eines Separatisten in Kanada, wohl im Auftrag Indiens, macht aktuell Schlagzeilen.
Der Aktivist, der in Kanada erschossen wurde, gehört zu einer religiösen Minderheit, die für ihren eigenen Staat, Khalistan, kämpft. Die Sikhs, die überwiegend im Bundesstaat Punjab leben, haben bereits in den 70er und 80er-Jahren aufbegehrt. Nun bricht der Konflikt wieder auf und die Hindunationalisten gehen in einer Weise vor, wie wir das bisher noch nicht erlebt haben. Den diplomatischen Zwischenfall bekommt die deutsche Öffentlichkeit kaum mit.
Und dann gibt es noch die Dalits – die Unberührbaren.
Die Dalits sind keine religiöse Minderheit, sondern die unterste Gruppe beziehungsweise außerhalb des hinduistischen Kastensystems. Dabei machen sie rund 16 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Traditionell gilt ihre Nähe als schädlich für die Angehörigen höherer Kasten, sie dürfen nur Berufe ausüben, die als schmutzig gelten – etwa sanitäre Arbeiten. Die Dalits, vielfach selbst Hindus, werden auch von der BJP vereinnahmt. Vielen ist auch nicht so bekannt, dass Modi selbst nicht der höchsten Kaste angehört. Mit ihm identifizieren sich auch Dalits. Er ist sozusagen der Mann von der Straße. Für die höheren Kasten und die richtigen Hardliner sind andere zuständig, etwa der Chief Minister in Uttar Pradesh, ein nordindischer Bundesstaat, oder der Innenminister.
Gegenüber China ist der Westen lautstark, wenn es um Menschenrechtsverletzungen geht. Bei Indien ist man ausgesprochen leise – auch die deutsche Politik. Überrascht Sie das?
Nein, es überrascht mich nicht, insbesondere, seitdem ich die Pressekonferenz von Außenministerin Annalena Baerbock im vergangenen September in Neu-Delhi beobachtet habe. Das Gleiche gilt für Verteidigungsminister Boris Pistorius, für Wirtschaftsminister Robert Habeck und auch für Kanzler Olaf Scholz. Alle flogen nach Indien nach dem Motto: „Wir wollen uns gegenüber China breiter aufstellen, sowohl geostrategisch als auch wirtschaftlich.“ Über Menschenrechte hinwegzusehen, gehört zu dieser selbsterklärten Strategie dazu. Zumal Indien eine so hohe Bedeutung wie China noch nie beigemessen wurde – nun ändert sich das. Jetzt müsste man anfangen, über die Probleme zu reden, die spätestens seit der Jahrtausendwende massiv übersehen werden. Mir persönlich macht die Entwicklung in der indischen Gesellschaft Angst.
Das heißt, in die Auseinandersetzung um das Attentat zwischen dem kanadischen Premier Justin Trudeau und Modi werden die EU oder die USA nicht eingreifen?
Ich denke nicht. Und so wie es aussieht, wird der Zwischenfall mit einem lautstarken Schweigen aus Washington kommentiert. Auch aus Australien und Großbritannien, wo es eine große indische Minderheit gibt, kommt nichts. Trudeau steht damit allein. Denn sowohl die USA als auch die anderen besagten Staaten haben ihren Pro-Indien-Kurs nach dem Ausbruch des Ukraine-Krieges noch einmal verstärkt. Deswegen sagt da keiner was. Trudeau hatte aber keine andere Wahl, als dieses Vorgehen der indischen Geheimdienste zu kritisieren. Rund zwei Prozent der kanadischen Bevölkerung sind Sikhs.

Was unterschätzt der Westen, vielleicht auch Deutschland, am meisten an Indien?
Das mag jetzt widersprüchlich sein: Indien hat eine demokratische, aber auch eine sozialistische Tradition. Beides wird unterschätzt, weil die aktuellen, politischen Entwicklungen diese wegdrücken. Die Wirtschaft ist seit der Liberalisierung in den 90er-Jahren erstarkt. Es gab noch eine Zeit, in der Indien Coca-Cola nicht ins Land gelassen hat, um zu produzieren, weil das Unternehmen das Rezept nicht rausgerückt hat. Aus dieser extremen Verschlossenheit und den sozialistischen Wirtschaftskonzepten hat sich das Land befreit. Der Westen unterschätzt also, welches Potenzial da ist. Gleichzeitig ist die Wirtschaft auch sehr behäbig, es wird nicht von jetzt auf gleich einen großen Boom geben. Kurzum: Indien ist erstens eine Demokratie und zweitens ist sie sozialistisch tradiert und drittens ist sie korrupt.
Und trotzdem wollen Unternehmen wie Apple nun in Indien produzieren. Wird Indien das neue China?
Die europäischen und auch die deutschen Investoren sind bei Indien immer noch recht zögerlich – und das hat seine Gründe. Es gibt immer noch komplizierte Richtlinien, die Investoren erschweren, in den Markt zu kommen. Zudem gibt es hohe Zölle und eine schlechte Infrastruktur. Indien ist trotz seiner Stärke in IT, Dienstleistungen und der Pharmabranche ein schwieriger Markt und nicht zu vergleichen mit China.
Indien ist seit diesem Jahr das bevölkerungsreichste Land der Welt – es hat auch eine junge Bevölkerung. Setzt Indien auf die demografische Dividende?
Natürlich wissen die Inder, dass das ein großes Pfund ist. Aber das Problem ist die schlechte Ausbildung der Menschen – sowohl auf dem Land als auch in der Stadt. Es gibt zwar eine Schulpflicht, aber der kommen auch nicht alle nach. Auch die Qualität der Schulen, selbst der Privatschulen, lässt zu Wünschen übrig. Hier müsste die Regierung massiv investieren, um überhaupt genug Fachkräfte beispielsweise für den Handels- und Industriebereich zu stellen und sich weiter zu entwickeln. Im Vergleich zu China, wo das Bildungswesen für junge Menschen gerade zu heftig ist, ist Indien noch weit entfernt.
Der Subkontinent verzeichnet aber seit Jahren ein rasantes Wirtschaftswachstum. Das Land könnte zur vierten Wirtschaftsmacht der Welt aufschwingen.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) – im vergangenen Jahr rund 3,4 Billionen US-Dollar – muss man auf die Bevölkerung umlegen. Dann bleibt wenig vom Reichtum: Der BIP pro Kopf betrug lediglich 2379 Dollar. Da ist also noch viel Aufholbedarf.
Welche innere Mission verfolgt denn Indien?
Das Problem ist: Von welchem Indien ist die Rede? Das ein Definitionsproblem. Wenn Sie mit Hindunationalisten sprechen, dann würden sie wahrscheinlich sagen: „Wir wollen das große alte Indien wiederherstellen.“ Wenn Sie mit Anhängern der Kongresspartei sprechen, also der alten Partei der Gandhi- und Nehru-Dynastie, die im Moment abschmiert, dann würden die sagen: „Wir wollen ein multiethnisches, blockfreies Land.“ Und wenn Sie die Muslime fragen werden, wird es noch komplizierter. Hier kommen wir zum Anfang zurück. All das spiegelt die Spaltung wider. Anders als in China, das durch ein übergeordnetes Komitee kulturell homogenisiert wurde, ist Indien heterogen. Der Minimalkonsens ist, dass man als Land weder beim Westen noch beim Osten steht.


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Kann Modi dieser Kurs, mit allen auf freundlichem Fuß zu stehen, auch in Zukunft gelingen?
Da bin ich mir sicher. Gerade in der Neuordnung der geopolitischen Karte hat das Land gute Chancen. Modi hat sich jetzt beim G20-Gipfel auch als Fürsprecher der afrikanischen Länder hervorgetan, hier kann es neue Allianzen geben. Im Grunde genommen ist es die alte Tradition der Unabhängigkeit mit einem erstarkten Selbstbewusstsein.
Zur Person
Oliver Schulz 1968 in Hannover geboren, ist studierter Indologe, Tibetologe und Soziologe. Er arbeitet als Redakteur bei den Lübecker Nachrichten sowie als freier Journalist und wohnt in Hamburg. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher, zuletzt erschien „8849“ im Westend Verlag – ein Sachbuch über den Massentourismus, Tod und Ausbeutung am Mount Everest.