Pforzheim/Enzkreis/Nordschwarzwald. Er kam am Mittag aus Frankreich, und er kam überraschend: Am 26. Dezember 1999 stürmte Orkan Lothar über die Region, riss Bäume um und Menschen in den Tod: Er richtete in Pforzheim, dem Enzkreis und dem Kreis Calw nicht nur enorme Schäden an, sondern forderte insgesamt europaweit über 110 Menschenleben. Noch heute - 20 Jahre nach dem Unglück - erinnerin sich viele Beteiligte mit Schaudern an jenen zweiten Weihnachstfeiertag. Auch zahlreiche Redakteure der "Pforzheimer Zeitung" wissen noch ganz genau, wie der damalige Tag für sie ablief.
Claudius Erb, PZ-Redakteur
"Neben dem Studium jobbte ich vor 20 Jahren in meiner Heimatstadt Lahr als Pizzabote - auch an jenem Zweiten Weihnachtsfeiertag, als "Lothar" durch den Südwesten fegte. Klar, dass da keiner vor die Tür und auswärts essen gehen wollte. Die Aufträge flatterten im Akkord herein: Der Typ mit dem gelben Shirt und dem pinken Käppi wird's schon richten.Unvergessen jener Moment, als ich einer Familie, die im Türrahmen ihres Wohnhauses auf mich wartete, die georderten Pizzen bringen wollte und plötzlich vom Dach eine Lawine von Ziegeln zwischen mir und ihnen im Vorgarten niederging. Oder als ich während einer kurzen Überlandfahrt aus dem Seitenfenster blickte und auf einem Hügel direkt neben mir reihenweise Bäume umstürzten, als würden da gerade Riesen Mikado spielen.Dienstbeflissen, wie ich ganz offensichtlich schon damals war, brachte ich auch diese Schicht stoisch zu Ende - kreuz und quer durch die Gegend wetzend, die Finger abwechselnd in das wild wackelnde Lenkrad meines Kleinwagens und in die wegzufliegen drohenden Pizzakartons gekrallt. Aufs Trinkgeld fand der Einsatz für die hungrige Kundschaft unter teils lebensgefährlichen Bedingungen übrigens keinen spürbar positiven Niederschlag. Aber vielleicht kann ich seither ein kleines bisschen besser damit umgehen, wenn mir Gegenwind ins Gesicht bläst - ob nun im buchstäblichen oder übertragenen Sinne."
Petra Joos, PZ-Redakteurin
"Ich kann mich noch sehr gut erinnern, dass ich am Zweiten Weihnachtstag zu Besuch bei einer Freundin in Ersingen war. Wir saßen in ihrer Dachwohnung im Wohnzimmer auf dem Sofa unter einer Schräge und unterhielten uns. Dann ging es los. Erst mit rumpelnden Geräuschen vom direkt über uns liegenden Dach, die schon nichts Gutes erahnen ließen. Dann kamen diese krachend-schürfenden Schläge und wir begriffen, dass es einen Ziegel nach dem anderen aus dem Dach riss - direkt über unseren Köpfen. Und wir konnten nichts machen, gar nichts. Wir saßen einfach auf diesem blauen Sofa und hofften, dass es bei einzelnen Ziegeln bleibt. Das war dann Gott sei Dank auch so. Aber diese brachiale Naturgewalt und das damit verbundene Gefühl des Ausgeliefertseins zu spüren, das hat uns damals große Angst gemacht."
Marek Klimanski, PZ-Redakteur
"Ungefähr das, was man am allerwenigsten tun sollte, habe ich am Tag von "Lothar" gemacht - ich bin über Mittag zwei Stunden lang mit dem Auto quer durch den Schwarzwald von meinem damaligen Wohnort Calw zu meinen Eltern nach Freiburg gefahren. Ein dreiviertel Jahr vorher hatte ich mich von der Mutter meines kleinen Sohns getrennt, und der Zweijährige sollte um 14 Uhr zu meinen Eltern, seinen Großeltern, gebracht werden - gleichzeitig auch für mich die Weihnachtsverabredung mit ihm. Und die wollte ich natürlich auf keinen Fall verpassen. Katastrophenwarnung im Radio? Pah. Katastrophen gibt es in den Tropen, in den USA, vielleicht in Italien. Man - vielleicht auch nur ich - konnte sich das damals gar nicht vorstellen, wie gefährlich Stürme bei uns werden könnten. Und tatsächlich: Ich kam manchmal nur haarscharf durch. Der Sturm peitschte und bog die Bäume, während ich an ihnen vorbei raste. Hinter Altensteig und dann nochmal im Kinzigtal stürzten Baumriesen nur wenige Dutzend Meter hinter meinem kleinen Fiat auf die Straße. Die Autobahn A5 wäre keine Alternative gewesen, die war längst gesperrt, und die Strecken, auf denen ich fuhr, die Bundesstraßen B463 und 294, wurden kurz nach mir ebenfalls gesperrt. Während ich fuhr. meldete der Sprecher im Radio: "Südbaden ist schon verwüstet", und erstmals glaubte ich an die Schwere der Katastrophe, die am Ende rund 20 Tote forderte. Aber Aufgeben war jetzt keine Alternative mehr, und ich kam durch, konnte meinen Jungen zu Weihnachten sehen und in die Arme schließen. Ob ich es wieder tun würde? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mir die Frage nie wieder stellen müssen will."
Alexander Huberth, PZ-Redakteur
"Alles war neu an jenem zweiten Weihnachtsfeiertag 1999: Erst vier Wochen zuvor war ich aus Freiburg in den Nordschwarzwald gezogen, um in Calw mein Volontariat anzutreten. Abseits vom Weltgeschehen fand ich eine Wohnung in Sommenhardt, einem Ortsteil von Bad Teinach-Zavelstein. Wenn sich irgendwo Füchse und Hasen Gute Nacht sagen, dann dort oben auf diesem kleinen Plateau in luftiger Höhe. Als Neuling war mir der Feiertagsdienst erspart worden, ich hatte also frei und Besuch von meiner damaligen Freundin. Irgendwann erwachte ich von heftigem Getöse, es hörte und fühlte sich an, als habe ein Kran begonnen, das freistehende Zweifamilienhaus, in dem ich mich unterm Dach eingemietet hatte, abzureißen. Schlaftrunken schob ich die Vorhänge zur Seite, überzeugt, gleich in das grinsende Gesicht eines Bauarbeiters zu blicken. Doch da war niemand. Nur ein paar Bäume, die sich auf der Wiese verzweifelt gegen den Sturm stemmten. Die Tannen und Fichten des nahen Waldrands wogten hin und her wie eine einzige grau-grüne Masse, ein Spielball der Natur. Dunkle Wolken türmten sich, das Haus duckte sich weg, in der Wohnung blieb es auch jetzt, am Tag, düster. Das Getöse brauste lauter und lauter; bald verloschen die Lichter; die Stromversorgung hatte kapituliert. Es war so faszinierend wie beängstigend. Ich weiß nicht mehr, wie wir den Tag verbracht haben. Möglicherweise trieb ich irgendwo ein batteriebetriebenes Radio auf, vielleicht floss auch der Strom zurück in die Leitungen - das alles bleibt verschwommen in meiner Erinnerung. Präsent ist mir nur noch, wie wir am späten Nachmittag versuchten, nach Calw zu gelangen, um etwas Essbares zu organisieren. Auf weiten Umwegen schafften wir es schließlich in die Stadt, vorbei an umgestürzten Bäumen, durchgeschüttelt vom Sturm, der mein Auto ein ums andere Mal packte. Wir kamen heil an, heil wieder zurück, schlugen uns die Bäuche mit Ente süß-sauer voll und lauschten dem noch immer brüllenden Lothar. Keine Ahnung, wann die Kraft des Orkans nachließ. Am nächsten Tag aber hatte er sich wohl ausgetobt. Ich schaffte es, unversehrt in die Redaktion zu fahren; meine Freundin überstand die Rückfahrt nach Freiburg unfallfrei - flankiert von den tiefen Wunden, die Lothar dem Schwarzwald zugefügt hatte."
Michael Müller, PZ-Redakteur
"Nichts ging mehr. Wir standen auf der A5 in Richtung Süden. Starke Böen schüttelten das Auto durch und zerrten an unseren Nerven, Äste schlugen gegen die Scheiben, etwas weiter weg knickten Bäume um. Als der Sturm nachließ, hatten wir es nicht mehr weit bis ins Hotel. Wir waren zum Brunch verabredet: weihnachtliches Familientreffen mit meinem Cousin - einem Förster mit Revier mitten im Schwarzwald. Dass er überhaupt kam, hatte uns angesichts der noch kaum zu fassenden Lage überrascht. Doch er sagte sinngemäß, als sein Handy mehrfach klingelte: ´Was da passiert ist, wird uns noch Jahre beschäftigen.´ Wie recht er hatte."
Alexander Heilemann, PZ-Redakteur
"Vom Wohnzimmer des Hauses unserer Eltern aus, schaut man auf die Schwäbische Alb - und man blickte auf drei hohe Fichten im Garten. Am 2. Weihnachtstag 1999 war die Familie versammelt und meine Mutter vermied jeden Blick aus dem Fenster. Immer stärkere Orkanböen rüttelten die Bäume durch und sie hatte panische Angst. Der Rest der Familie beruhigte sie. War ja nicht der erste Sturm, sagten wir. Was soll denn auch passieren?, fragten wir und verfolgten das Schauspiel am Fenster. Während wir so auf Mutter einredeten, fielen alle Fichten aufs Haus zu, verfehlten es um wenige Meter und blieben im Garten liegen. Dann war im Zimmer Ruhe. Wir überprüften kurz, dass die Bäume sich nicht mehr in Richtung Straße bewegten und flüchteten schnell wieder ins Haus. Geplant war für den Nachmittag ein Besuch bei Verwandten im Remstal. Als die Böen gegen Abend etwas schwächer wurden, machten mein Bruder und ich uns auf den Weg. Wir mussten durch den Schurwald. Lothar aber hatte alle Straßen blockiert. Kein Durchkommen. Wir finden einen Weg über den wenig bewaldeten Hohenstaufen, fahren am Ende rund 50 Kilometer - fast 30 Kilometer Umweg. Da ist längst klar: Lothar war doch der erste Sturm mit einer solchen Gewalt."
Michael Schenk, PZ-Redakteur
"Gruselig ist dieser zweite Weihnachtsfeiertag 1999: Zuhause ist für Stunden der Strom ausgefallen. Ums Haus pfeift der Orkan, als sollte es kein Morgen geben. Mir ist mulmig, als ich mich kurz nach Mittag in Dietlingen ins Auto setze, um meinen Dienst in der Regionalredaktion zu versehen. Würde ich überhaupt bis Pforzheim gelangen? Oder würden mir Baumstämme den Weg blockieren? Die kurze Waldstrecken zwischen S-Kurve (Karussell) und dem Kaltenberg eine Zitterpartie. Nie zuvor und nie danach habe ich Baumstämme unter Sturmlast so schwer ächzen und knarren hören. Tatsächlich stürzt auch eine Kiefer krachend um, glücklicherweise weit genug von der Straße entfernt. So erreiche ich die Redaktion und vor mir die Aufgabe, mit meinen Kollegen zusammen das Geschehen in Artikel und Schlagzeilen zu formen. Es herrscht eine selten fieberhafte Stimmung. Alle stehen unter Strom. Leider mangelt es an Bildmaterial, und Fotograf 'Hekti' Gerhard Ketterl muss nicht lange erklären, warum: 'Man geht bei dem Sturm doch nicht raus in den Wald , ich bin doch nicht lebensmüde!'. Kein noch so schönes Foto kann dieses Risiko rechtfertigen. Er, nein, wir alle konnten froh sein, überhaupt heil in die Redaktion gelangt zu sein. Spät am Abend, als wir unseren denkwürdigen Dienst beenden, hat der Sturm an Kraft eingebüßt, und die Rückfahrt gestaltet sich weniger beklemmend. Die Sorge, ob die Zeitungen überhaupt am Morgen ausgeliefert und ausgetragen werden können begleitet uns auf dem Heimweg. Bei allem Ungemach sei noch erwähnt: Im nahen Schwarzwald, wo riesige Lücken in den Forst gerissen worden sind, haben sich so einige Blicke mit betörend schöner Aussicht in der Ferne geöffnet. Doch das Sturmholz, sollte noch viele Jahre - auf Polderplätzen gelagert - Denkmal für ein ohnehin unvergessliches Weihnachten bleiben."
Martin Mildenberger, PZ-Mitarbeiter
"Wie immer am zweiten Weihnachtsfeiertag machten wir uns auch am 26. Dezember 1999 auf den Weg zu den Eltern meiner Ehefrau ins Murgtal nach Gernsbach. Wir nahmen die übliche Route von Knittlingen aus über die B293 und die B10 auf die A5 in Karlsruhe Richtung Basel. Die Wettervorhersage war nicht ansatzweise so dramatisch, wie die meteorologische Wirklichkeit an diesem schrecklichen Vormittag. Wir fuhren gegen 10.45 Uhr in Karlsruhe-Durlach auf die A5 auf. Sturm und der Regen wurden minütlich peitschender, wir dachten kurz an Umkehr. Doch dann lautete unser Motto: Da müssen wir jetzt durch. Meine Ehefrau schaute besorgt nach hinten, wo unsere fünfjährige Tochter mit großen Augen das schauerliche Treiben außerhalb des warmen Autos verfolgte. Bei Ettlingen sahen wir Bäume, die vom Sturm waagrecht Richtung Autobahn gedrückt wurden. Viele brachen später, wie man auf zahlreichen Fotos sehen konnte. Sturm und Regen waren jetzt so heftig, dass man sich nur noch in mäßiger Geschwindigkeit fortbewegen konnte. Nicht von einem herumfliegenden Gegenstand oder einem durch die Luft wirbelnden Stück Holz getroffen zu werden, war nunmehr reine Glückssache. Wir erreichten dennoch einigermaßen sicher die Autobahnausfahrt Rastatt, von wo aus es auf der B462 Richtung Gernsbach gehen sollte. Weil unsere Tochter dringend auf die Toilette musste, hielten wir an der ersten Tankstelle an der B 462 an. Dort hatten bereits viele Fahrzeuge geparkt, um dem Unwetter zu entgehen. Auf dem Weg von der Toilette zurück zum Auto hatten wir dann wahnsinniges Glück. Der Orkan hatte ein schmales Kunststoffdach, das an der Tankstelle befestigt war, einfach abgerissen und durch die Luft gewirbelt. Nur wenige Zentimeter rauschte das Teil mit den scharfen Kanten an mir und meiner Tochter vorbei. Es hätte uns schwer verletzen können. Rein ins Auto und nach mehreren Umleitungen wegen umgestürzter Bäume erreichten wir unser Ziel. 75 Kilometer Horrorfahrt hatten ein glückliches Ende gefunden."