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Pforzheim/Enzkreis. Eigentlich hatten sich die 50 THW-Helfer des Ortsverbandes Pforzheim den Mittag des zweiten Weihnachtsfeiertag ganz anders vorgestellt. Daheim, im warmen, gemütlichen Wohnzimmer vor dem Weihnachtsbaum. Das leckere Weihnachtsmenü gemeinsam mit der Familie essen, so war es wie jedes Jahr geplant. Sturm Lothar, der mit seinen hohen Windgeschwindigkeiten in der waldreichen Region in Pforzheim und dem Enzkreis wütete und viele Nadelbäume einfach wie Streichhölzer umknickte und auf die Straßen warf, machte dem gemütlichen Weihnachtsfest im Kreise der Familie schnell ein jähes und stürmisches Ende.
Um die Mittagszeit: Alarm für die Einsatzkräfte – zwei Tote auf der A8
Kurz vor 12 Uhr alarmierte die Feuerwehrleitstelle für Pforzheim und Enzkreis auf Anforderung des Autobahnpolizeireviers Pforzheim die Helfer des THW zur Unterstützung. An zahlreichen Stellen lagen auf der A8 zwischen Karlsbad und Heimsheim viele Bäume mehrfach so übereinander, dass die Verkehrswege für die Verkehrsteilnehmer und die Rettungskräfte blockiert waren. Kurz vor Heimsheim wurden zwei Personen durch umstürzende Bäume in ihrem Fahrzeug erschlagen. Die THW-Helfer rückten mit dem Radlader und Motorsägen aus, um eine Schneise frei zu räumen, damit Notarzt und Rettungskräfte mit ihren Fahrzeugen an den Einsatzort kamen. Da es auf der A8 kein Durchkommen Richtung Stuttgart mehr gab, drehten die Verkehrsteilnehmer auf der Richtungsfahrbahn nach Stuttgart einfach um und fuhren entgegen der Fahrtrichtung zurück nach Pforzheim. Bei Pforzheim-Ost hielten THW-Kräfte mit ihren Einsatzfahrzeugen kurzerhand den in Richtung Stuttgart laufenden Verkehr kurzfristig an, damit die entgegengesetzt fahrenden Fahrzeuge die Autobahn A8 bei Pforzheim-Ost verlassen konnten. Schwere Unfälle konnten so gerade noch verhindert werden.
Sturm Lothar blies nach wie vor mit mehr als 150 Kilometer pro Stunde, so dass immer wieder bis zu zehn Meter lange Baumstämme wie Streichhölzer abknickten und über alle Fahrbahnen der Autobahn A8 geweht wurden. Hätten diese Baumstämme die im Stau stehenden Autos mit voller Wucht getroffen, wären sicher weitere Todesopfer zu beklagen gewesen. Polizei, Feuerwehr und THW konnten die in den Fahrzeugen ausharrenden Fahrzeuginsassen rechtzeitig in Sicherheit bringen.
Viele Straßen blockiert
Neben der Autobahn A8 waren die Bundesstraßen der Region, die Umleitungsstrecken und zahlreiche Landes- und Kreisstraßen von Behinderungen durch umgestürzte Bäume betroffen. Viele Verkehrsteilnehmer konnten ihre Fahrt nicht fortsetzen und verbrachten eine kalte Nacht in ihren Fahrzeugen. Das DRK versorgte die Menschen mit Decken und warmem Tee. Ein Ehepaar war die ganze Nacht im Holzbachtal unter Bäumen eingeschlossen und konnte erst am nächsten Tag mit einem Hubschrauber gerettet werden. Stark betroffen durch den Sturm waren die Dächer. Zahlreiche Gefahrenstellen mussten im städtischen Bereich beseitigt und die offenen Dächer provisorisch verschlossen werden.


Ein Sturm. Ein Orkan. Eine Katastrophe: Wie Orkan Lothar vor 20 Jahren für Chaos, Tote und Verletzte sorgte
Stromausfall führt zu weiteren Problemen in Altenheimen und bei der Wasserversorgung
Schwierig gestaltete sich die Situation in manchem Altenpflegeheim, das durch Stromausfälle große Probleme hatte. Hier konnte das THW einzelne Gebäudeteile mit Strom versorgen und die Situation für die Betroffenen erträglicher machen. Auch die Trinkwasserversorgung von höher gelegenen Ortsteilen war durch Stromausfall nicht mehr betriebsfähig. Da eine Förderpumpe nicht mehr mit Strom versorgt wurde, konnte kein Wasser mehr in einen Wasserturm gepumpt werden. Nach dem vollständigen Leerlaufen des Behälters führte dies zu einem Ausfall der Wasserversorgung in einem Versorgungsgebiet im südöstlichen Enzkreis. Auch hier konnte das THW mit Hilfe eines Aggregates Strom einspeisen, die Pumpe des Wasserturms in Zusammenarbeit mit dem örtlichen Wassermeister in Betrieb nehmen und den Behälter wieder befüllen. So stand für die nächsten Tage wieder ausreichend Trink- und Löschwasser zur Verfügung.
Feuerwehr setzt Führungsstab zur Koordinierung ein
Um die mehr als 900 Einsatzkräfte von Feuerwehr, Deutschem Roten Kreuz, des Technischen Hilfswerks, der Bergwacht Schwarzwald sowie Trupps der Stadtwerke Pforzheim, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zahlreicher städtischer Ämter in der Nacht des zweiten Weihnachtsfeiertages zu koordinieren und sich mit der Polizei und den Nachbarn abzustimmen, setzte die Feuerwehr Pforzheim in der Hauptfeuerwache einen Führungsstab unter Leitung des damaligen Feuerwehrkommandanten Volker Velten und dem damaligen Ersten Bürgermeister Matthias Wittwer (†) ein. Auch das THW war im Führungsstab mit zwei Fachberatern vertreten. Den Führungsstab erreichten zahlreiche Hilfeanforderungen. Aus einem Pforzheimer Hotel kam die Anfrage nach Feldbetten, um die Kapazitäten zu erweitern. Auch hier konnte durch die Anlieferung von Feldbetten und Wolldecken unbürokratisch dafür gesorgt werden, dass hilfebedürftige Menschen ein Dach über dem Kopf hatten. In den Feuerwehrhäusern in der Region wärmten sich die Menschen, bei den Strom und Heizung ausgefallen waren und die nicht allein in ihren kalten Häusern Weihnachten verbringen wollten.

Vor 20 Jahren schlug Orkan Lothar mit aller Macht zu
200 THW-Kräfte zusammengezogen
Aufgrund der großen Schäden wurden noch am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertag, koordiniert durch die Fachberater und die Regionalstelle Karlsruhe neben den örtlichen Ortsverbänden Pforzheim, Mühlacker, Niefern und Neuenbürg auch überregionale Einsatzkräfte des THW aus den Ortsverbänden Rheinhausen-Oberhausen, Waghäusel und Heidelberg in der Region zusammengezogen. Insgesamt waren 200 THW-Einsatzkräfte mit 25 Fahrzeugen zwischen dem zweiten Weihnachtsfeiertag und Silvester 1999 mehrere Tage in der Region Nordschwarzwald im Einsatz, um Gefahrenstellen an Gebäuden zu beseitigen und Straßen wieder freizuräumen.
Helferfest – OB lädt Einsatzkräfte ein
Das ausgefallene Weihnachtsessen holten die rund 1.000 beteiligten Einsatzkräfte aller Organisationen, Ämter und Dienststellen mit ihren Familienangehörigen rund ein halbes Jahr später am 15. Juni 2000 auf dem Pforzheimer Messplatz nach. Dr. Joachim Becker, damals Oberbürgermeister der Stadt Pforzheim, lud alle zum gemeinsamen Essen ins Festzelt auf der Pforzheimer Mess´ein, erinnerte an den bis heute verheerendsten und folgenreichsten Stürme in Mitteleuropa und lobte die hauptamtlichen und ehrenamtlichen Einsatzkräfte, die teilweise unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit dafür sorgten, dass Menschen in Sicherheit gebracht wurden und Gefahren und Schäden abgewendet werden konnten.
Bilanz des Schreckens
Mehr als 110 Menschenleben forderte der Sturm. Er verursachte einen Sachschaden von knapp elf Milliarden Euro. In wenigen Stunden fällte der Sturm in Baden-Württemberg 30 Millionen Festmeter Holz. In normalen Zeiten braucht die Fortwirtschaft für die gleiche Menge drei Jahre. Noch heute sind im Schwarzwald die Schäden sichtbar. Im Flachland bei Karlsruhe wurden Windgeschwindigkeiten um 150 Kilometer pro Stunde gemessen; auf dem Feldberg im Schwarzwald wurden in Spitzenböen rund 212 Kilometer pro Stunde gemessen, danach versagte die Messstation ihren Dienst. Auf dem bayrischen Wendelstein zeigten die Windmesser knapp 260 Kilometer Windgeschwindigkeit an, der bis dahin höchste in Deutschland gemessene Wert. Seit Sturm Lothar wurden die Wetter- und Unwetterwarnungen weiter optimiert, die Öffentlichkeit wird nun mit klaren und eindeutigen Worten zum richtigen Verhalten aufgefordert.


Von fliegenden Pizzaschachteln, knarrenden Bäumen und angsteinflößender Stille: So erinnern sich acht PZ-Redakteure an den Orkan Lothar

