
Tabletten schlucken, bis die Ohnmacht einsetzt, die Luft abschnüren, bis die Bewusstlosigkeit einen übermannt oder scharfe Chips essen, bis die Zunge brennt wie Feuer – all das sind Mutproben auf der Social-Media-Plattform TikTok. Und auf keiner anderen App verbringen Jugendliche mehr Zeit. Sozialpädagoge und Medienexperte Clemens Beisel klärt im PZ-Interview über die Tücken der App auf und spricht über seine Erfahrungen mit gefährlichen Challenges, die auch in der Region eine Rolle spielen.
PZ: Warum ist gerade TikTok so beliebt bei jungen Menschen?
Clemens Beisel: Die App schafft es, durch ihre Mechanismen, junge Menschen in den Bann zu ziehen. Sie verlieren das Zeitgefühl. Viele Apps hätten gerne genau das, was TikTok hat: YouTube kopiert das mit Shorts, Instagram mit Reels.
Welche Mechanismen sind das?
Der Algorithmus. Es heißt ja immer, dass er dir genau das anzeigt, was du sehen willst. Ich habe da mittlerweile eine andere Meinung: TikTok zeigt dir nicht nur das an, was dich interessiert, sondern auch Videos, die dir nicht gefallen. Und das, obwohl TikTok es eigentlich besser weiß. Es ist pure Absicht, damit ein Glücksmoment ausgelöst wird und du dran bleibst, in der Hoffnung, dass bald wieder ein Video kommt, dass dich interessiert. Sie lassen dich suchen. Das macht TikTok so gut wie keine andere App.
1,3 Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland haben laut einer Studie Probleme wegen ihres Medienkonsums. Das sind die Ergebnisse einer Untersuchung der DAK-Gesundheit und des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf. Im letzten Vor-Corona-Jahr 2019 lag der Anteil der Heranwachsenden mit problematischer Social-Media-Nutzung der Studie zufolge bei 11,4 Prozent. Das bedeutet einen Anstieg von 126 Prozent seitdem.
Und warum fühlen sich viele nach einem Besuch auf TikTok schlecht?
Zum einen haben manche ein schlechtes Gewissen danach, weil ihnen bewusst ist, dass es zu lange war. Ich war erst kürzlich in einer neunten Klasse, da gab es kaum jemanden, der weniger als drei Stunden am Tag auf TikTok ist. Und den Jugendlichen ist klar, dass sie die Zeit eigentlich sinnvoller nutzen könnten. Zum anderen verstärkt die App, was man gerade fühlt. TikTok kann gut erkennen, was die Nutzer beschäftigt und verstärkt das Gefühl durch die vorgeschlagenen Videos. Aber der App ist es egal, wie es dir geht. Die interessiert nur, dass du sie benutzt.

Ist diese Rücksichtslosigkeit auch der Grund, dass dort viele gefährliche Challenges viral gehen?
Es liegt vor allem an der Altersstruktur auf der App. Mit Fünft-, Sechst-, Siebtklässlern muss ich nicht über Instagram sprechen, sondern über TikTok. In diesem Alter geht es um Mutproben: Wer ist der Stärkste? Wer traut sich mehr? Das kennt man schon von indigenen Stämmen und Initiationsriten. Ab 15 oder 16 Jahren setzt dann die Vernunft vor allem bei den Mädchen ein, die dann auch die Jungs zügeln.


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Finden solche Mutproben dann überhaupt noch wie früher auch auf dem Schulhof statt oder nur noch im Netz?
Ich war im vergangenen Jahr an einer Schule, da haben Kinder die extrem scharfen Chips für eine Challenge nicht bekommen, dafür aber eine Habanero Chili und haben sich die dann auf dem Schulhof reingepfiffen. Oder die Piloten-Challenge: Dabei schnürt man sich die Luft ab, bis die Ohnmacht einsetzt. Ein Junge hat das gemacht, ist dann mit dem Kopf gegen ein Waschbecken gefallen und hat einen Schädelbasisbruch davongetragen. Die Jugendlichen sehen die Challenges zwar auf TikTok, durchgeführt werden sie dann aber auch auf dem Schulhof mit Freunden.
Sind die Mutproben gefährlicher als früher?
Ich habe einer Freundin von der Piloten-Challenge erzählt. Daraufhin meinte sie, dass es die bei ihr auf der Schule vor 25 Jahren auch schon gegeben hätte. Die Mutproben sind also oft nicht neu, sondern schlagen nur mit einer anderen Wucht ein, weil sie gefilmt und geteilt werden.


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Sehen die Kinder und Jugendlichen die zum Teil lebensgefährlichen Konsequenzen gar nicht?
Viele denken nicht so weit und das ist jetzt überhaupt nicht böse gemeint. Die Jugendlichen sehen bei der Hot-Chip-Challenge oder dem Piloten-Test nur einen hochroten Kopf und gehen nicht davon aus, dass es lebensgefährlich werden kann. Vor allem wenn man die Videos sieht, bei denen alles gut geht. Manchen Kindern fehlt da die Weitsicht, zumal man in der Pubertät sowie so sehr emotional und hormongesteuert ist. In dieser Phase geht man über seine Grenzen und nicht rational an Dinge heran. Man muss aber auch sagen, dass es viele harmlose Challenges gibt, wo es zum Beispiel ums Tanzen geht.


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Du gibst Workshops in Schulen zu dem Thema. Wie sensibilisiert man, ohne Nachahmer zu ermutigen?
Das ist ein schmaler Grat, aber so ist das bei Präventionsarbeit: Aufklärung, aber bitte nicht nachmachen! Ich lasse die Challenges komplett raus aus meinen Workshops. Denn im schlimmsten Fall kann es eben passieren, dass es jemanden anspricht und derjenige dann danach sucht. Lehrkräfte und Eltern werden von mir darüber selbstverständlich informiert, wenn ich den Bedarf in der Klasse sehe.


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Das heißt aber nicht, dass er auch fündig wird. Ich habe nach Challenges gesucht und nichts gefunden.
Manchmal werden Begriffe von den Userinnen und Usern mit Absicht falsch geschrieben, damit die Videos von TikTok nicht entfernt werden, dazu ist die App nämlich verpflichtet. Trotzdem würde ich der Plattform sogar unterstellen, dass sie die Inhalte einem Journalisten nicht anzeigen – aber Kindern schon. Mir haben Schüler von ganz grausamen Videos auf Instagram berichtet, in denen auch Enthauptungen zu sehen waren. Ich hab dann selbst gesucht und recherchiert aber nichts gefunden. Kollegen haben mir Ähnliches erzählt, deshalb komme ich auf diese Hypothese. Das ist aber meine persönliche Theorie.


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Solche Videos will man als Elternteil seinen Kindern ersparen. Was kann man tun?
Da sein. Das Schönste wäre doch, wenn das Kind ein Video sieht, es den Eltern zeigt und man dann darüber spricht und die Eltern aufklären können. Dafür darf man die App aber nicht verteufeln, sondern muss die Kinder gut begleiten.
Und in welcher Verantwortung sehen Sie dann die Schulen?
Die Schulen denken oft, dass drei Stunden mit mir ausreichen. Aber es braucht Medienkompetenz als festes Schulfach. Und damit meine ich nicht, dass man dabei lernt, wie man eine Power-Point-Präsentation macht, sondern wie man mit Social Media umgeht. So ein Fach soll im kommenden Schuljahr endlich eingeführt werden, aber ich frage mich: Wer schult die Lehrkräfte dafür? Die wurden dazu nämlich nicht ausgebildet. Und da gebe ich unserem Schulsystem und dem Kultusministerium die Schuld.
Zur Person:
Clemens Beisel ist gelernter Sozialpädagoge und Sozialmanager. Seit 2013 bietet er in Pforzheim und dem Enzkreis Workshops, Fortbildungen und Elternabende zum Spannungsfeld „Smartphones, Soziale Netzwerke und junge Menschen“ an. Im vergangenen Jahr hat er zusammen mit der „Pforzheimer Zeitung“ an einer Veranstaltungsreihe zur gesunden Mediennutzung gearbeitet und im Rahmen des Projekts „Smart Kids“ Vorträge und Podiumsdiskussionen für Lehrer und Eltern sowie Workshops für Kinder und Jugendlichen gegeben.


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